V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 39

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merseelen
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Eitrarliche Kundschau 3 0
Neue Novellen

Von Willy Rath (Düsseldorf)
* Der Titel enthält eigentlich eine Überfüllung —
sauf grammatisch: pleonasmus; denn Novelle,
(novella sagt bekanntlich nichts anderes als
„Neuigkeit“. Eine Abart der „Mordgeschichte, die
sich neulich zugetragen hat,“ war ursprünglich die
im
Novelle. Und den Charakter hat die Novelle
abgesehen nämlich von der Er¬
wesentlichen —
weiterung zur Erzählung, zum kleinen Roman — bis
heute bewahrt. Nur daß sie statt der Wirklichkeit
des Vorgangs längst die Besonderheit allein betonte
und den Stoff erfand oder doch ganz frei um¬
gestaltete; statt der Frische des Geschehens ward die
Neuartigkeit von Bedeutung, statt der örtlichen
wurde die allmenschliche Teilnahme angeregt. Aus
den vermischten Nachrichten erwuchs die künstlerisch
auf einen Punkt gesammelte kurze Erzählung irgend¬
eines mehr oder minder erstaunlichen Menschen¬
erlebnisses und daraus, durch folgerichtige Weiter¬
verinnerlichung die gleichgeformte Darstellung eines
seelischen Erlebnisses, die psychologische Novelle.
Das Besondere, meist Absonderliche der richtigen
Novelle ist in allen drei neuen Novellensammlungen,
die hier zu betrachten sind; aber auf verschiedene
bringt
Weise. Der Wiener Arthur #
im ganzen die stilordentlichere, flicht die wertvollere
Gabe. Die beiden anderen Dichter Johannes Schlaf
und Wilhelm Mießner, erweitern öfters die Form vom
(psychologischen) Erlebnis oder Konfliktbericht zur
Schilderung eines ganzen Charakters oder Natur¬
ausschnittes. Schnitzler, in seiner kühlen donau¬
französischen, d. i. durch Umwelt und Anempfiundung
halbromanisch gewordenen Art mit süddeutsch ge¬
töntem Vortrag, legt diesmal besonders deutliches
Hauptgewicht auf den Vorgang — um sich mit dem
feinsten Skeptikerlächeln darüber zu stellen.
„Dämmerseelen“ nennt er sein jüngstes
Bändchen und beschwert das Wort mit einem ge¬
rüttelten Maß kecker Ironie. Ein Teil der „Dämmer¬
seelen“ könnte schlechthin auch dumme Seelen heißen.
Arthur Schnitzler hat diesmial den Aberglauben aufs
Korn genommen; allerlei Aberglauben, wozu er
vornehmlich auch — und wer will ihn widerlegen?
den Glauben an ein treuloses Weib zu rechnen
scheint. „Das Schicksal des Freiherrn von Leisen¬
bohg“ ist die bitter=frech zugespitzte Tragikomödie
eines mit äußerster Zähigkeit Verliebten. Nach jahre¬
langem werbenden Zusehen wird ihm die volle
Gunst der veränderungssüchtigen Künstlerin gewährt,
aber dann gleich wieder entzogen, und er muß
erfahren, daß er auch dieses flüchtige Glück nur dem
ihr
Aberglauben der Angebeteten verdankte:
vorletzter Liebhaber hatte im Sterben seinen
Nachfolger verflucht, sie aber war neu ver¬
liebt in einen nordischen Sänger, und um
diesem nicht den Fluch zuzuziehen, hatte sie —
zunächst den Freiherrn von Leisenbohg erhört. Ahn¬
lichen Geistes sind die Novellen „Die Fremde“ und
„Andreas Thameyers letzter Brief“
Erzählt ist jedes dieser Geschichtchen so geschickt
trocken, daß die Bitterkeit solches Zynismus' ver¬
hältnismäßig wenig durchdringt. Dennoch sind die
Gipfelpunkte, die äußerste Torheit der drei Dämmer¬
helden keineswegs glaubhaft gemacht. Hier, wie in
„Die Weissagung“ einer ulkigen Verspottung der
Ahnunggläubigen, wird im Grunde nur ein mehr
oder minder witziges Spiel des Verstandes getrieben,
wobei gelegentlich mit Grazie offene Türen er¬
schlossen werden. Gefühlskunst bringt diesmal nur
„Das neue Lied“: das tragische Ende eines armen
Wiener Mädels von den Volkssängern, die das
doppelte Unglück hat, zu erblinden und einen dummen
Kerl zu lieben. Es gehörte viel sicheres Können dazu,
einem so beschaffenen Stoff nicht in volkssängerliche
Sentimentalität zu folgen, sondern ein zitterndes,
sprechendes Stück Leben daraus zu machen, wie es
(bis auf das unnaiv Nachträgliche.
dem Wiener —
hier geglückt ist,
seines Schlußberichts)