VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Alfred Kerr Dramatiker, Seite 1


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1. Panphlets offorints
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denkt. Der Vertag (Georg Müller) hebt an den Geschichten hervor, daß sich
nichts darin ereignet, und man kann ihm nicht widersprechen. Es gehört Mut
dazu, im zwanzigsten Jahrhundert, das geschichtlich von Geschehen donnert, zu
verlangen, daß auch in der Poesie etwas vor sich gehe. Musil hat sich die
Phantasie vollständig abgewöhnt; er hat nur noch Talent. Er läßt sich keinen
Einfall mehr kommen. Man braucht gar keine Sinne zu haben, um ihn zu
lesen; Blindgeborene sind das ge#prene Publikum für ihn. Es ist keine Form
gedichtet, sondern alles zu Dunst und Nebel getrachtet. Die Mutmaßlichkeit ist
die Seele dieser Poesie. Es wäre aber an der Zeit, daß Musil zum Mann
würde, der etwas Entschiedenes über das Leben der Erscheinungen und über die
Erscheinungen des Lebens zu berichten wüßte. Er steht seitwärts mit der wehmütig
lächelnden Entsagung des ewigen Knaben, und zieht gute Bronze in kunstvolle
Fäden aus: „Sehk, das ist das berühmte Metall, aus dem man Reiterstand¬
bilder gieße“
* Dramatiker von Alfred Kerr
I.
—elche Eindrücke vollziehen sich in mir, wenn ich (mit dem festen
Entschluß, über zwei Dramen von Schnitzler, über eines von

Eulenberg, viertens über ein Lustspiel von Shaw unweigerlich
etwas zu sagen) den Blick nach innen stoße? Ich muß sie mit Gewalt zurück¬
und auseinanderhalten. Sie drängen sich vor, jedes, gleich Arabern im dunklen
Innern der Cheopspyramide, die mich im Dufte des Fledermausmistes und
leerer Särge rit Lichtfunzen so bar der Ordnung im Durcheinander umreden,
bis ich sie anbrülle: „Speake one, no three!!!“ (Auf arabisch fügt' ich bei:
macht, daß ihr fortkommt, imschi!! Ich wäre gern allein weiter geklettert.)
Dergleichen ist genau die Stimmung vor den vier durcheinandersprechenden
Dramen. Die Wahrheit zu äußern, möchte man allein herumklettern.
Hat man jedoch Mitgänger, so muß man sie sämtlich in die Schranken
weisen. Zuerst ergibt sich, wenn ich den Dingen auf den Grund lausche,
folgende Wirrnis. Man sieht zwischen Medardus Klähr und seiner Prinzessin
Helene nächtens ihren stillen Gipfel mit Einzelheiten, welche nicht geschrieben
worden (so daß Schnitzler dieser kalten Jungfrau von Valois etwas Ersehn¬
liches geliehen haben muß); ich gewahre zugleich von Shaws Lustspiel die lon¬
doner Darstellung . . . und gleich dahinter meinen Aufenthalt in England.
Dazwischen schiebt sich in fast grauem Leuchten mit etwas arabeskigem Hirn
Eulenbergs Vincenz, der Schulden hat, ein Seifenblasenbalg ist und sich darum
als ein Märterich auf dieser Kugel, wo alles um Geld geht, vorkommt; —
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