VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung, Seite 1


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1. Pamphlets, offprints
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Neuwiener Schicksals= und Stimmungsdichtung
seine zögernde Haltung beim Erwerb Ostafrikas verargten. 1885 nicht, als
der Reichsgründer im Streit mit Spanien um die Karolinen dem Papst das
Schiedsrichteramt übertrug. 1888 nicht, als die freisinnige Presse über Bismarcks
bulgarische Politik jammerte. 1889 nicht, als der Samoavertrag mit dem Tadel
begrüßt wurde: Es gelingt nichts mehr.
Es ist das Schicksal des Diplomaten, Konzessionen machen zu müssen und
dafür die Unzufriedenheit seiner Zeitgenossen zu ernten.
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Neuwiener Schicksals= und Stimmungsdichtung
(Beer=Hofmann, Hofmannsthal, Schnitzler)
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Don Dictor Ulemperer=Berlin
it Leidenschaft und vieler, wenn auch nicht völliger Berechtigung
verteidigt Grillparzer mehrfach seine „Ahnfrau“ gegen den Vor¬
wurf, eine Schicksalsdichtung zu sein; denn als Vorwurf empfindet
er die Meinung, wonach er Menschen zu Spielbällen der Willkür
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gemacht habe. Ein inneres gesetzmäßig waltendes Schicksal, das
Gesetz der Vererbung, um dessen Entschleierung die Gegenwart ringt, stand dem
jungen Dichter von 1816, schwankend und verhüllt allerdings, vor Augen. Etwa
drei Menschenalter später, die übervoll sind vom Streben nach naturwissenschaft¬
licher Erkenntnis, hat wieder ein Wiener Schicksalsstück auf vielen deutschen
Bühnen großen Erfolg, und diesmal waltet das Schicksal mit so grenzenloser
Willkür, wie wohl in keiner Dichtung irgendeiner früheren Epoche.
Zwar „Der Graf von Charolais“ (Berlin, S. Fischer Verlag), der den
spärlich produzierenden und vorher durch einige Novellen kaum bekannt gewordenen
Richard Beer=Hofmann mit einem Schlage berühmt machte, enthält auch jene Idee
der schicksalsmäßigen Erbbelastung. Der jüdische Gläubiger, an dessen Hartherzig¬
keit alles Flehen des Grafen abprallt, kann nicht Menschlichkeit üben, weil er
unter dem Bann der Unmenschlichkeiten steht, die seinem Vater und seinen Ahnen
angelan wurden:
Schneidt's mir die Abern auf — heraus laßt's rinnen
Mei Blut, damit nix von mei Vatter, und
Mei Vatters Vatter, und von all de andern,
Ka Tropfen Bittres, Wehes in mir bleibt ....
dann will ich
Mit Euch so reden, wie e Mensch — ich mein'
E guter Mensch — soll zu e Menschen reden.
Und Charolais selber erklärt als Erbschaft vom Vater, woraus sein viel¬
fältiges Erwägen der Dinge und weiter das stimmungshaft Jähe seines immer