VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung, Seite 3


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1. Panphlets, offprir

Neuwiener Schicksals= und Stimmungsdichtung
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nämlich sind zwar überzeugt, daß sie einer Schicksalsfügung unterstehen, aber
eine Sicherheit haben sie doch: ihrer selbst glauben sie sicher zu sein, sie glauben
bestimmt nichts tun zu können, was ihrem eigenen inneren Wesen widerspräche.
Am stärksten drückt das Charolais mit diesen Worten aus:
Langsamem Siechtum, Armut, Sorge, Tod —
Kann Eintritt in mein Leben ich nicht wehren,
Ich weiß — Gebieter sind sie, und sie lenken!
Doch nie darf Reue auf der Stirn mir steh'n,
Nie Ekel sich auf meine Lippen legen —
Ich mein', vor mir, vor meinem Tun und Denken.
Herr ist das Schicksal über allen Dingen —
Doch hier bin ich's! Dazu kann's mich nicht zwingen.
Und so wie Charolais, denken der Präsident und Désirée, und nun —
dies ist die bruchlos folgerichtige Entwicklung eines Schicksalsfanatikers — zeigt
ihnen das Schicksal, daß es buchstäblich über allen Dingen Herr ist und aus¬
nahmslos über allen, daß es auch die Persönlichkeit dem eigenen Selbst zu
entfremden vermag. Désirée begeht im Taumel einer verführenden Stunde
schändlichen Ehebruch, der Präsident muß sie selber des Todes schuldig erklären,
und Charolais tut als leidenschaftlicher Rächer seiner Ehre, was ihm nun doch
Reue auf die Stirn und Ekel auf die Lippen legen wird. Und Désirée sagt,
sie wisse nicht, was sie zu ihrer Tat veranlaßt habe, und Charolais lehnt die
Verantwortung am Tode seiner Gattin ab:
Ich trieb sie ja wohl in den Tod! Ich „trieb“ sie!
„Trieb“ ist das Wort — nicht wahr? Ich trieb sie nicht!
(ernst und stark) „Es“ trieb uns — treibt uns! Es! .. ...
Dies also ist der letzte Sinn des Stückes, der vielleicht manchem anders
gerichteten als ein Unsinn erscheinen mag, zumal ja Désirées Verhalten auch
in den physiologischen Einzelheiten fast unerklärlich bleibt, aber doch, wie gesagt,
ein mit bruchloser Folgerichtigkeit herausgearbeiteter Sinn: daß Schicksal noch
mehr sei als vererbte Anlage und äußerer Zufall, dem ein noch so belastetes
und gebundenes Ich doch immerhin irgend etwas entgegenzusetzen hat, daß es
vielmehr die allmächtige, in der Außenwelt wie in der menschlichen Seele
unumschränkt herrschende Sinnlosigkeit sei, der gegenüber der Mensch nicht als
Persönlichkeit, sondern als Spielball bestehe.
Dieses Furchtbare, das Beer=Hofmann im „Charolais“ wenigstens als ein
Tragisches hinstellt, suchte er in einer früheren Dichtung, der lyrisch ver¬
schwimmenden Erzählung „Der Tod Georgs“ gar als etwas beinahe Erfreu¬
liches zu bezeichnen. Dort ist dem Einzelnen die Verantwortung für sein Tun
und Lassen abgenommen, alles, was ihm geschieht, ist Schicksalsspiel, und alles,
was ihm geschieht, hat Bedeutung, weil es zugleich Schicksal für andere bildet,
weil er gar kein einzelner, sondern nur ein Mosaikstein im Weltgefüge ist.
Und dieses verantwortungslose und verschwimmende Leben birgt dreifachen