VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung, Seite 5

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1. Pamphlets, offprints
Neuwiener Schicksals= und Stimmungsdichtung
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gefolterten Jüngling. Ein berauschter Gefährte hat in Odipus Zweifel an seiner
Herkunft erweckt, das delphische Orakel sollte ihm Gewißheit geben und schenkte
dem Entsetzten statt der erbetenen Antwort den Ausspruch, er werde den Vater
töten und die Mutter freien. Nun flieht er vor seinem Geschick und fühlt es
doch über sich. In der bedrückenden Einsamkeit des Tempels ist ihm das
Dunkle und Tiefe der eigenen Seele ins Bewußtsein gedrungen, er spürte:
ihr nicht," und
„hier ist kein Grund: dem Weltmeer ist ein Grund gesetzt
dann hat ihn das Orakel so getroffen, daß er mit dem frohen Odipus von
ehedem nichts mehr gemein hat:
Die Götter impfen sonderbaren Saft
Ins Blut: vor dem besteht nicht dieses Kinderzeug:
Ich bin, der gestern war.
Wiederum macht sich dies „Gestern“ fürchterlich bemerkbar, denn aus dem
Sturm klingen die Stimmen der Ahnen, deren Leidenschaften seinen Weg hervor¬
rufen:
Unser Ringen und Raffen
Hat ihn erschaffen.
Herz und Gestalt,
Begierden und Qualen -
Er muß uns bezahlen,
Daß wir mit Gaben
Beladen ihn haben.
Er ist ein König und muß es leiden,
Und wär' ein nackter Stein sein Thron:
Es ist uns'res Blutes Sohn.
Alle diese Schicksalsdinge sind von geheimnisvollen Worten und Rhythmen
umschleiert, aus denen sie um so gespenstischer hervorleuchten. Daß Hofmannsthal
freilich sehr ausnahmsweise — auch das einfacher Menschliche mit hinreißender
Lyrik darzustellen vermag, beweist er in demselben Akte, in dem er schildert, wie
sich Odipus auf der Flucht vor seinem Schicksal von Heimat und (den vermeint¬
lichen) Eltern losreißt. In Versen, die von der Klangschönheit als einzigem
Gesetz geregelt sind, beauftragt der Verstörte seinen alten Diener:
Sag meiner Mutter, und meinem Vater sag': einmal am Tag
Zu dieser Stunde, wenn die Erde sich ängstlich regt,
Weil die Nacht das schwere Dunkel auf sie legt,
Da sollen sie sich erinnern, daß ich noch in der Welt bin,
Da werd' ich irgendwo niederknien,
Und wenn die Hände des Nachtwinds im Walde wühlen
Wie Menschenatem, schwer und beklommen,
Da wird ihr Gesicht zu mir kommen.
Und manchmal, wenn auch nicht jeden Tag,
Da werden sie spüren ein Etwas im nächtigen Wind,
Das wird sich regen und leise bewegen an dem Fenster, wo sie schlafen:
Da sollen sie wissen, das ist ihr Kind.
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