VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung, Seite 8


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1. Panphlets, Offprints
Neuwiener Schicksals= und Stimmungsdichtung
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ich taste kläglich,
Wenn mich die Dinge zwingen zum Entscheiden:
Mich zu entschließen ist mir unerträglich,
Und jedes Wählen ist ein wahllos Leiden.
Und von entschlußfähigeren Freunden sprechend, meint er: „O, wie ich sie
beneide um ihr Wollen!“ Aber in diesem Neid des Willenlosen steckt Koketterie,
denn ihm ist in seinem Zustand wohl. Gibt er sich doch ohne alles lästige
Gefühl der Verantwortlichkeit und Pflicht jeder Stimmung und dem Genuß
jeder Stunde hin, übt sich darin, alles was ihm das Leben bietet, auch das
Schmerzliche, auch das Ungeheure, als Genuß, als ein ihm bereitetes Fest zu
betrachten und macht aus solcher Schwelgerei ein System und gar eine Art
Sittengesetzes.
Laß Dir des Heute wechselnde Gewalten,
Genuß und Qualen durch die Seele rauschen,
Vergiß das Unverständliche, das war:
Das Gestern lügt, und nur das Heut ist wahr!
Laß Dich von jedem Augenblicke treiben,
Das ist der Weg, Dir selber treu zu bleiben!
Der Stimmung folg', die Deiner niemals harrt,
Gib Dich ihr hin, so wirst Du Dich bewahren.
Den hastigen, schwankenden Genießer zu zeigen, der jede Stimmung ganz aus¬
beutet, unbekümmert um das Schicksal der ins Spiel gezogenen Mitmenschen,
wird fortan eine Hofmannsthalsche Hauptaufgabe. So ist der Mädchenjäger
Florindo in dem possenartigen Lustspiel „Cristinas Heimreise“, so ahnt die
Feldmarschallin, die von sich selber her den Maßstab nehmen mag, ihren blut¬
jungen Octavian, so — nur ins Derbstoffliche übertragen — ist in derselben
Komödie: „Der Rosenkavalier“ Ochs von Lerchenaus falstaffisches Wesen gerichtet,
und so greift der Baron in dem Versspiel „Der Abenteurer und die Sängerin“
das Leben an, wobei sein Ausschöpfen des Daseins auch wieder zumeist auf
„Frauen, Frauen, Frauen wie Wellen! wie der Sand am Meer! wie Töne in
einem Saitenspiel!“ hinauskommt. Aber schwelgerischer als im Darstellen solcher
Genießer erscheint Hofmannsthal dann, wenn er ein Tragisches aufrollt zu dem
offenkundigen Zweck, durch die Stimmung des Ganzen, durch seine malerischen
und rhythmischen Werte zu reizen. Er hat dann nicht die Objektivität des
Dramatikers, der allen Dingen ihren Lauf läßt, sondern etwas von der
wollüstigen Anteilnahme eines Nero an dem von ihm angeordneten grausamen
Spiel liegt in der sehr deutlich zu spürenden Stellung des Autors etwa zu dem
mit äußerstem Raffinement auf stimmungshaftes Wirken hinarbeitenden Einakter:
„Die Frau im Fenster“. Von Sympathien des Dichters für seine Menschen,
die er allzu oft zu bloßen Farben und Klängen gestaltet, kann im wesentlichen
nur da die Rede sein, wo er die Schwachen und Haltlosen zeichnet. Das hat
er im „Geretteten Venedig“, der nach Otways Vorlage ausgeführten handlungs¬
bunten Geschichte einer mißlingenden Verschwörung, in mehrfacher Variation