VI, Allgemeine Besprechungen 2, 1899 Vortrag Hermann Bahr, Seite 2

Bahris selbst in Wien stets zu den beiuchtesten
macht. Hermann Bahr hat ebensooiel Freunde
wie Feinde, daß er sich trotz dieses Umstandes
doch eine so angeheme Stellung in der öster=
reichis den Literatur nicht nur zu erringen, sondern
auch bis heute zu erhalten wußte, erhöht die Be¬
deutung seiner Person. Am letzten Sonntag
besprach er nun die Geschichte der Schriftsteller=
einigung „Jung=Oesterreich", die gewissermaßen
auch seine eigene Geschichte ist, da er ja als
geistiges Haupt dieser Vereinigung gilt und alle
Phasen der Entwicklung derselben selbst mit=
gemacht hat. Er leitete seinen Vortrag mit zwei
selbsterlebten Aneedoten in, welche als Basis und
programm für die jung österreichische Schrift¬
stellerwelt zu gelten! n. Die erste Aneedote
spielt in Salzburg, wo Bahr das Obergynnasium
besuchte. Sein Geschichts Professor, der heute einen
hohen Rang in der Gelehrtenwelt einnimmt, ist
der Held derselben. Derselbe liebte es, in seinen
Vorttägen von seinem Thema so weit abzu-
schweifen, daß er schließlich nicht mehr wußte,
über was er anfange sprechen wollte. Bei diesen
d
— Uhi-hmeiiungen kam er aber -regeim-
Interpretation des Wortes Genie zurück. Ein
Gem:e ist derjenige — behauptete er — der das
G fühl für das Nothwendige hat. Goethe ware zum
Beispiel, würde er in der heutigen Zeit leben,
ganz gewiß kein Dichter, weil eben heute das Dichten
nicht das Nothwendigste ist, er wäre höchstwahr¬
scheinlich ein Börseaner oder ein Großindustrieller.
Diese Anekdote sei, betont Bahr, die Basis für
die production der heutigen Literatenwelt. „Wo
sind heute die Dichter?“ — ruft er aus. Gedichte
werden heutzutage ebensowenig gekauft als gelesen,
dagegen eine naturalistische Novelle, ein seichtes
Theaterstück habe viel größeren Erfolg für sich.
Dieses Gefühl für das Nothwendige, das Fehlende,
das Gefühl für die Lücke in der heutigen Literatur
habe die Schriftsteller von „Jung Oesterreich"
zusammengeführt. Das Programm derselben er-
gebe die zweite Anekdote. Dieselbe spielt gleich¬
falls in Salzburg. Der Mond strahlte sein bleiches
Licht auf die herrliche Allee des Salzburger Stadt¬
parkes, in welcher der junge Bahr an der Seite
einer Dame lustwandelte. Er sagte nichts und
Wiener J:
daß sie Gerhart Hauptmann
beneideten; tm Gegentheil, man bewunderte iha
und spürte nur dem Geheimnis nach, welches ihn
groß gemacht. Endlich hatte man's gefunden:
er schilderte, was er genau kannte, wäs er füg*
lich um sich sah, seine engere Heimath, die schle¬
sischen Menschen, er ließ sie in ihrer Sprache
reden, er beobachtete ihr Thun und Lassen, ver¬
pflanzte alles auf die Bühne und schaf sich so
einen bedeutenden Namen. Das wollte man in
Wien auch einmal versuchen. Das hatten bisher
weder Grillparzer noch Anzengruber versucht.
Und doch lag es so nahe. Man brauchte ja doch
blos auf die Straße hinauszugehen, bei jedem
dritten Schritte stieß man auf Interessantes, die
alten Straßen und Häuser, die Kirchen, die
Menschen, die rastlos schaffenden Bürger und
Spießer in ihren niedrigen Vorstadigewölben und
Kneipen, all das war noch nicht auf der Bühne
so geschildert worden, wie man es jetzt thun.
wollte. Und erst das füße Wiener Madel! das
war jetzt das große Losungswort geworden, wel¬
ches die Bahr, Schnitzler, Ebermann
Schild erhoben. Ebermann, der, mit seiner
„Athenerin" in Wien einen großen Erfolg davon=
trug fiel in Berlin damit durch, weil sie ihn
dort nicht verstanden haben. Die Berliner sahen
eben nur Athener, während man in Wien sofort
erkannte, daß Ebermann sich selbst und seine
Liebe vorführte. Als endlich Bahr und Schnitzler
die ersten großen Erfolge mit ihren Stücken er¬
rangen, da mußte man allerdings zugeben, daß
es ein specifisch Wiener Stück gebe. Dieses spe¬
cifische Wienerthum, welches auf der Bühne ge¬
bracht, hellen Jubel erregte, welches in Novellen
Romanen verarbeitet, so überaus vertraut und
heimisch anmuthet, diese Schilderung der h.rmat¬
lichen vertrauten Gestalten, das ist es, was
„Jung Oesterreich“ vor anderen auszeichnet, das
ist ihre Arbeit, ihr Programm Bahr plaudert
weiter über die Anfeindungen, welche „Jung
Oesterreich“ auszuhalten hatte und kommt schlie߬
lich auf das „Kastl des ersten Erfolges" zu
sprechen, welches jeder Schriftsteller erhält. Als
Schnitzler sein „Süßes Mädel" über die Bretter
gehen ließ, so sprach alles hiervon. Er bekam
sein „Kastl,“ in welchem der Erfolg des süßen
Mädels hineingethan wurde. So oft er nun
Neues, Originelles, schaffen wollte, kamen seine
guten Freunde, kam das Publicum, und ver¬
langte, er möge doch ein neues süßes Mädel
machen. Das sei nun der Fluch des Ruhmes,
der jeden Schriftsteller verfolge und ihn mit der
Zeit zum Routineur mache, welcher dann Fabriks¬
waare erzeugt, statt die Literatur stets in neue
fortschreitende Bahnen zu lenken. Da sei es nun
ein Glück für die Schriftstellerwelt, daß sich auch
die Provinz zu regen beginne und neue Werke
bringt und damit zugleich eine Concurrenz und
Controlle für den Wiener Literatur=Markt bildet.
„Das geistige Schaffen in der Provinz, die Ver¬
wendung der heimischen Gestalten auf
der heimischen Bühne, das war die
Vollendung unseres Programms,
und unser Leitspruch lautet: Die
Pflicht des Schriftstellers ist es,
der Forderung des Tages Rechnung
zu tragen.“ Mit diesen Worten schloß Bahr
den ersten Theil seines Vortrages, der durch
stürmischen langanhaltenden Beifall belohnt wurde.
Anschließend an den Vortrag las Bahr drei
Werke der neuen Richtung mit großem Erfolge.
Zuerst das „Gespräch“ von Hugo v. Hofmanns¬
thal, weiters einiges aus Felix Salten's „Wurstel-
prater,“ und schließlich fein eigenes Geisteskind:
„Die schöne Frau,“ das einen durchschlagenden
Erfolg erzielte. Der Recitation folgte ein gemüth¬
liches Beisammensein, an welchem auch der ge¬
schätzte Gast theilnahm. Derselbe zeigte sich als
Gesellschafter ebenso interessant wie als Vorleser
und manches geistreiche Witzwort desselben dürfte
noch lange hier den Gesprächsstoff bilden.