VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Otto Fröhlich, Seite 4

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Wesentlich tiefgründiger ist dasselbe Problem in den beiden Novellen „Frau
Berta Garland“ und die „Griechische Tänzerin“ gefaßt. In der ersten Geschichte
hören wir einen Ton der später in „Frau Beate und ihr Sohn“ zu vollklingender
Melodie wird. Eine junge Frau mußte lange Zeit neben einem ungeliebten Manne
hintrauern. Nach seinem Tode trifft sie den Jugendfreund, glaubt einen zweiten
Liebesfrühling zu erleben und es ist nur eine Episode. Sie erinnert sich, daß sie
Frau und Mutter ist, und entsagt allen Abenteuern. In der zweiten Novelle wird
das Los geschildert, dem Frau Berta entging. Für ihren Gatten, den Künstler,
bedeutet Frau Samodesky kaum mehr etwas.
Diese Menschen wollen alle erleben, jedoch intensiver als Anatol oder Fritz
es vermochten. Hat man gar die Todeskrankheit im Herzen, dann steigert
sich die Lebenssehnsucht aufs Höchste. Felix („Sterben“) durchkostet die letzten
Lebensstunden in Wehmut und Exstase. Seine Geliebte soll aber nicht weiterleben,
wenn er vom Dasein scheidet. Umsonst: Das Mädchen läßt den Sterbenden allein,
denn sie will leben, ieben! Nicht anders denkt Marie („Der Ruf des Lebens“).
Die den harten Vater vergiftet und von seiner Leiche zu dem Liebsten eilt.
Ergreifend ist das Schicksal des armen Vorstadtkindes, das einst die Freuden ihres
jungen Lebens in vollen Zügen schlürfte, plötzlich erblindet und sich verstoßen
fühlt („Das neue Lied“).
Auf ein anderes Blatt gehören zwei Erzählungen, die vor allem aus psycholo¬
gischem Interesse entstanden sind. Felix weiß, daß er sterben muß und dem Ver¬
hängniße nicht entgeht; der „Leutnant Gustel“ soll sich erschießen, weil er eine
Beleidigung nicht sofort rächen konnte. Lebenslust und Ehrgefühl geraten hier
fortwährend in Konflikt. Der Dichter bekundet in der Schilderung nicht nur den
erfahrenen Menschen- und Seelenkenner, sondern er stellt auch eine Hauptfigur
hin, die tief im Wiener Erdreich wurzelt. Woran man das erkennt? Nun, im all¬
gemeinen ist sich ja die Forschung über das charakteristische einzelner Provinzen
noch nicht klar; man ist also auf Andeutungen angewiesen. Leutnant Gustel spricht
zunächst jenes ldiom, das in Wien sowohl Offiziere als Aristokraten gerne
gebrauchen, ein Idiom, das ein gemildertes, mit dialektischen Ausdrücken ver¬
sprengtes Hochdeutsch darstellt. Dann das persönliche an der Wiener Erscheinung:
Zwei Gesellschaftsklassen haben in Osterreich unstreitig ein Eigengepräge: Militär
und Aristokratie. Beide stützen sich auf Traditionen, verschmähen es aber nicht,
auch mit unteren Schichten, mit dem Kleinbürger zu sympathisieren und sich dem¬
gemäß ungezwungener zu geben. Sicher wohnt zudem unseren Landsleuten eine
freudige Genußfähigkeit inne. Ein Uberrest aus den Tagen, wo Hanswurst seine
Spässe trieb und Alt und Jung zum Spektakel lief. So ist der Leutnant Gustel
wohl jedem Österreicher lieb, in seiner Sorglosigkeit und warmen Menschlichkeit.
„Das neue Lied“ ist in der Novelle vom „Blinden Geronimo und seinem Bruder“
vorgebildet. Der Blinde zweifelt an der Ehrlichkeit des Bruders, dieser wird zum
Dieb, um das angeblich entwendete Goldstück zu erlangen. Er büßt zwar den
Fehltritt, die Liebe des Blinden hat er dauernd erworben.
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