2. Cuttings
box 37/1
EGON P. STOLL.
292
Weib, das an unsrem Herzen ruhte Dass diese Erkenntnis unaus¬
gesprochen aus Schnitzlers Buch redet, das bildet seine melancholische Grösse.
„Und hun kein Wort mehr!“ sagte der Meister als Florestans Spiel auf¬
gehört. Wir aber, die verklungenen Töne tief im Herzen, schreiten leise zur
Schwelle und reichen „dem stummen Spieler“ einen Kranz.
86
X-STRAHLEN-PHANTASIEN.
VON
EGON P. STOLL.
Die Natur, welche mit Vorliebe „Mutter“ genannt wird, geberdet sich
dem Naturforscher gegenüber durchaus, wie eine höhere Tochter aus der
besten Gesellschaft. Furchtbar spröde! Nicht nur, dass sie sehr „zugeknöpft“
ist, umhüllt sie sich mit einem dichten Schleier und noch keinem sterblichen
Bewerber war es gegönnt, ihr voll ins Antlitz zu blicken. Aber die Natur¬
forscher sind nicht anders, wie alle anderen Männer! Das Unbekannte, Ge¬
heimnissvolle, Unerreichte und Unerreichbare reizt sie am allermeisten. Trotz¬
dem die Natur nun immer älter und älter wurde, büsste sie an ihrer Sprödigkeit
nicht ein, so dass es gar vielen ihrer Bewerber schliesslich an Mut und Ge¬
duld zum Weiterforschen gebrach und sie sich auf das viel bequemere Raten
und Combiniren verlegten, was denn wohl hinter dem Schleier stecken möge.
Dem Laienpublikum gegenüber aber thaten sie so, als ob sie nicht nur ein
wenig aufs Geradewohl hin geraten, sondern den Schleier wirklich gelüftet
hätten und zu der Natur in ganz nahen Beziehungen ständen. Sie renommirten.
Solche Leute nannte man „Naturphilosophen.“
Erst in den letzten fünfzig Jahren gelang es einzelnen begnadeten
Forschern ganz kleine Zipfel des Schleiers zu heben und dahinter einen Blick
zu thun. Das Gesetz der specifischen Energien der Sinnesorgane, das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft, die Spectralanalyse, die Verwandschaft zwischen
Licht und Electricität und schliesslich die X-Strahlen, — all’ diese Entdeckungen
bedeuten einen so gewaltigen Fortschritt auf dem Gebiete der Naturkenntniss,
dass Alles, was in vorigen Zeiten auf diesem Gebiete geleistet wurde, dahin¬
fällt im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Errungenschaften der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts.
Und ebenso wie vor wenigen Jahren das „Hertz“fieber alle Gelehrten
ergriff, so hält jetzt das „Röntgen“fieber alle Köpfe in Aufregung. Nur mit
dem Unterschiede, dass die Röntgen'sche Entdeckung viel eher geeignet ist,
das Laienpublikum für sich gefangen zu nehmen, während die Hertz'schen
Versuche doch nur vom Fachmann gewürdigt werden können. Es schien zu¬
erst ganz toll! Hindernisse, wirkliche und wahrhaftige Hindernisse verschwinden
einfach vor der magischen durchdringenden Gewalt der X-Strahlen!. Die
grünliche Fluorescenz einer evacuirten „Crookes“'schen Röhre, welche bisher
nur als interessanter Schulversuch betrachtet wurde genügt auf einmal, die
ganz unglaublichen durchsichtigen photographischen Aufnahmen zu ermöglichen.
Aber gar so einfach ist die Sache denn doch nicht! Denn da handelt
es sich vor allem um eine tadellos hergestellte Röhre, mit vorzüglich isolirten
Elektroden; und da die bestevacuirte Röhre schon nach Verlauf einiger'Stunden,
box 37/1
EGON P. STOLL.
292
Weib, das an unsrem Herzen ruhte Dass diese Erkenntnis unaus¬
gesprochen aus Schnitzlers Buch redet, das bildet seine melancholische Grösse.
„Und hun kein Wort mehr!“ sagte der Meister als Florestans Spiel auf¬
gehört. Wir aber, die verklungenen Töne tief im Herzen, schreiten leise zur
Schwelle und reichen „dem stummen Spieler“ einen Kranz.
86
X-STRAHLEN-PHANTASIEN.
VON
EGON P. STOLL.
Die Natur, welche mit Vorliebe „Mutter“ genannt wird, geberdet sich
dem Naturforscher gegenüber durchaus, wie eine höhere Tochter aus der
besten Gesellschaft. Furchtbar spröde! Nicht nur, dass sie sehr „zugeknöpft“
ist, umhüllt sie sich mit einem dichten Schleier und noch keinem sterblichen
Bewerber war es gegönnt, ihr voll ins Antlitz zu blicken. Aber die Natur¬
forscher sind nicht anders, wie alle anderen Männer! Das Unbekannte, Ge¬
heimnissvolle, Unerreichte und Unerreichbare reizt sie am allermeisten. Trotz¬
dem die Natur nun immer älter und älter wurde, büsste sie an ihrer Sprödigkeit
nicht ein, so dass es gar vielen ihrer Bewerber schliesslich an Mut und Ge¬
duld zum Weiterforschen gebrach und sie sich auf das viel bequemere Raten
und Combiniren verlegten, was denn wohl hinter dem Schleier stecken möge.
Dem Laienpublikum gegenüber aber thaten sie so, als ob sie nicht nur ein
wenig aufs Geradewohl hin geraten, sondern den Schleier wirklich gelüftet
hätten und zu der Natur in ganz nahen Beziehungen ständen. Sie renommirten.
Solche Leute nannte man „Naturphilosophen.“
Erst in den letzten fünfzig Jahren gelang es einzelnen begnadeten
Forschern ganz kleine Zipfel des Schleiers zu heben und dahinter einen Blick
zu thun. Das Gesetz der specifischen Energien der Sinnesorgane, das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft, die Spectralanalyse, die Verwandschaft zwischen
Licht und Electricität und schliesslich die X-Strahlen, — all’ diese Entdeckungen
bedeuten einen so gewaltigen Fortschritt auf dem Gebiete der Naturkenntniss,
dass Alles, was in vorigen Zeiten auf diesem Gebiete geleistet wurde, dahin¬
fällt im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Errungenschaften der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts.
Und ebenso wie vor wenigen Jahren das „Hertz“fieber alle Gelehrten
ergriff, so hält jetzt das „Röntgen“fieber alle Köpfe in Aufregung. Nur mit
dem Unterschiede, dass die Röntgen'sche Entdeckung viel eher geeignet ist,
das Laienpublikum für sich gefangen zu nehmen, während die Hertz'schen
Versuche doch nur vom Fachmann gewürdigt werden können. Es schien zu¬
erst ganz toll! Hindernisse, wirkliche und wahrhaftige Hindernisse verschwinden
einfach vor der magischen durchdringenden Gewalt der X-Strahlen!. Die
grünliche Fluorescenz einer evacuirten „Crookes“'schen Röhre, welche bisher
nur als interessanter Schulversuch betrachtet wurde genügt auf einmal, die
ganz unglaublichen durchsichtigen photographischen Aufnahmen zu ermöglichen.
Aber gar so einfach ist die Sache denn doch nicht! Denn da handelt
es sich vor allem um eine tadellos hergestellte Röhre, mit vorzüglich isolirten
Elektroden; und da die bestevacuirte Röhre schon nach Verlauf einiger'Stunden,