box 36/8
PamphletsOfTarints
Die Etiketten heißen: Der Dichter des „süßen Mädels“; oder „der
Dichter des Spiels von Leben und Tod“ oder der „Wiener Dichter“ schlecht¬
weg. Und keine trifft. Denn immer war er mehr und weniger zugleich.
Vor allem aber: es gibt keinen „Dichter des“ Denn dann
wär’ er gar keiner. Alles Spezialistentum ist unkünstlerisch und für den
rechten Dichter gibt es nur einen Stoff: die ganze Welt, wie er sie und
ihren Sinn sieht — reicher oder armseliger als die anderen und eben durch
die Art seines Sehens für andere bereichernd oder verarmend. Vor Jahren
stand einmal in einem Lexikon von einem bekannten Wiener Maler zu
lesen: „Malt von jetzt ab nur mehr Stilleben“. Die ganze Wiener Kunst¬
tragik liegt in den paar Worten; der Ausdruck der unseligen Um¬
klammerung, die jedem Erfolgreichen hier droht: man gestattet ihm
dann nur mehr, innerhalb dieser Erfolgsphäre tätig zu sein und ist
sehr ungehalten, wenn er es wagt, das ihm offiziell eingeräumte Gebiet
zu verlassen. Siehe Johann Strauß. Siehe Girardi. Bei Arthur Schnitzler hat
B
die gleiche Gefahr gedroht. Nichts schöner, als die unbekümmerte Ge¬
lassenheit, mit der er den Erfolg beiseite schob und sein inneres Müssen
dem gedankenlosen Verlangen der Mitwelt entgegenstellte. Man hat es ihm
schwer genug gemacht. Und man kann heute nichts höheres von ihm
sagen, als: daß er der stärkere war und siegreich geblieben ist. Wär’ es
nach den anderen gegangen, so hätte er zeitlebens nur mehr süße Mädeln
und leichtsinnige Melancholiker gestalten dürfen.
*
Man scheint es noch immer gar nicht zu merken, wie weit weg er
von den Gestalten und den Problemen seines Anfangs gerückt ist. Mehr:
wie wenig er überhaupt zu den Bezeichnungen stimmt, die noch immer für
ihn verwendet werden. In vierzehn Dramen und vielleicht doppelt so viel
Novellen hat er das ganze Österrreich zur Jahrhundertwende eingefangen
und das Verhältnis Österreichs zu unserer ganzen Zeit. Weniger die Fragen
dieser Zeit selber. Die neunziger Jahre, die für die deutsche und österreichische
Literatur so fruchtbar waren, haben in beiden Ländern ganz verschiedenartiges ge¬
bracht. In Berlin trat eine neue Generation auf den Plan; in Wien begann
eine alte Generation und eine alte Kultur nach beängstigend langem
Schweigen endlich zu reden. In Berlin waren es die sozialen Probleme, die zur
Dichtung wurden; in Wien wollten sie Schönheit ins Leben tragen. Proletarier¬
dichtung dort; Luxusdichtung hier. Und Dichtung, wie sie nur in der Großstadt, nur
in der Zeit des Telephons, des Autos, des Aéroplans möglich ist. Diese Art vertritt
Schnitzler amreinsten. Er ist der feinste Erotiker des Wienertums. Die österreichi¬
schen Dichter der Vorzeit waren gerade in den Dingen der geschlechtlichen Ethik
überängstlich, haben in ihren Frauengestalten fast durchwegs „Damen ohn¬
Unterleib“ gedichtet und durch Vexierspiegel alles Erotische und Sexuelle
wegeskamotiert. Saar war einer der ersten, der den Mut zur menschlichen
352
PamphletsOfTarints
Die Etiketten heißen: Der Dichter des „süßen Mädels“; oder „der
Dichter des Spiels von Leben und Tod“ oder der „Wiener Dichter“ schlecht¬
weg. Und keine trifft. Denn immer war er mehr und weniger zugleich.
Vor allem aber: es gibt keinen „Dichter des“ Denn dann
wär’ er gar keiner. Alles Spezialistentum ist unkünstlerisch und für den
rechten Dichter gibt es nur einen Stoff: die ganze Welt, wie er sie und
ihren Sinn sieht — reicher oder armseliger als die anderen und eben durch
die Art seines Sehens für andere bereichernd oder verarmend. Vor Jahren
stand einmal in einem Lexikon von einem bekannten Wiener Maler zu
lesen: „Malt von jetzt ab nur mehr Stilleben“. Die ganze Wiener Kunst¬
tragik liegt in den paar Worten; der Ausdruck der unseligen Um¬
klammerung, die jedem Erfolgreichen hier droht: man gestattet ihm
dann nur mehr, innerhalb dieser Erfolgsphäre tätig zu sein und ist
sehr ungehalten, wenn er es wagt, das ihm offiziell eingeräumte Gebiet
zu verlassen. Siehe Johann Strauß. Siehe Girardi. Bei Arthur Schnitzler hat
B
die gleiche Gefahr gedroht. Nichts schöner, als die unbekümmerte Ge¬
lassenheit, mit der er den Erfolg beiseite schob und sein inneres Müssen
dem gedankenlosen Verlangen der Mitwelt entgegenstellte. Man hat es ihm
schwer genug gemacht. Und man kann heute nichts höheres von ihm
sagen, als: daß er der stärkere war und siegreich geblieben ist. Wär’ es
nach den anderen gegangen, so hätte er zeitlebens nur mehr süße Mädeln
und leichtsinnige Melancholiker gestalten dürfen.
*
Man scheint es noch immer gar nicht zu merken, wie weit weg er
von den Gestalten und den Problemen seines Anfangs gerückt ist. Mehr:
wie wenig er überhaupt zu den Bezeichnungen stimmt, die noch immer für
ihn verwendet werden. In vierzehn Dramen und vielleicht doppelt so viel
Novellen hat er das ganze Österrreich zur Jahrhundertwende eingefangen
und das Verhältnis Österreichs zu unserer ganzen Zeit. Weniger die Fragen
dieser Zeit selber. Die neunziger Jahre, die für die deutsche und österreichische
Literatur so fruchtbar waren, haben in beiden Ländern ganz verschiedenartiges ge¬
bracht. In Berlin trat eine neue Generation auf den Plan; in Wien begann
eine alte Generation und eine alte Kultur nach beängstigend langem
Schweigen endlich zu reden. In Berlin waren es die sozialen Probleme, die zur
Dichtung wurden; in Wien wollten sie Schönheit ins Leben tragen. Proletarier¬
dichtung dort; Luxusdichtung hier. Und Dichtung, wie sie nur in der Großstadt, nur
in der Zeit des Telephons, des Autos, des Aéroplans möglich ist. Diese Art vertritt
Schnitzler amreinsten. Er ist der feinste Erotiker des Wienertums. Die österreichi¬
schen Dichter der Vorzeit waren gerade in den Dingen der geschlechtlichen Ethik
überängstlich, haben in ihren Frauengestalten fast durchwegs „Damen ohn¬
Unterleib“ gedichtet und durch Vexierspiegel alles Erotische und Sexuelle
wegeskamotiert. Saar war einer der ersten, der den Mut zur menschlichen
352