VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Rosenthal Jungwiener, Seite 7

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Panphletsoffbrints
Friedrich Rosenthal, Jungwiener Novellistik.
Rahmen organischen und möglichen Geschehens, schied Irrtümer und aber¬
gläubische Vermutungen aus: das Wunder des Erlebens blieb gleichwohl
bestehen. Und wenn auch die Gefahr der Verallgemeinerung und Überspitzung
wie bei jeder umwälzenden Entdeckung nahe lag, so stiegen doch die dichte¬
rischen Möglichkeiten ins Unermeßliche. Erkenntnis und Phantafte reichen
sich die Hände zu einem alles umspannenden Bund. Dazu kommt, wie ich
schon angedeutet, die Entwicklung einer Sprachkunst, die diesem Reichtum
eine würdige Form, seinen feinen Unterschiedlichkeiten einen bezeichnenden
Ausdruck geben konnte. Nichts wird mehr nebensächlich. Jedes Wort hat
seine Beziedung, seinen Doppelsinn, seine Deutung. Probleme, die 100 Jahre
vorher nur äußerlich oder mit einer genial zufälligen, nachtwandlerischen
Sicherheit bezwungen wurden, können nun menschlich, allmenschlich gefaßt
werden. Man vergleiche etwa einen Traum, den E. T. A. Hoffmann auf¬
zeichnet, in seiner bewunderungswürdigen dämonischen oder skurrilen, aber
willkürlichen Phantasie mit irgend einem Traumbild eines heutigen Dichters,
etwa mit den wundervollen kurzen Visionen, die in Hauptmanns „Atlantis“
der Held hat. Wie hier, um mit Wassermann zu reden, „die Paradoxie jedes
Traumes in irgendetnem Punkte eine greifbare Wahrheit hat“ wie in der
Verzerrung ungesucht der bereits früher angedeutete Sinn offenbar wird, wie
überhaupt kein Gefühl und kein Gegenstand für sich selbst steht, wie das
Bewußtsein des Träumenden sich von seiner Stellung innerhalb des Traumes
abhebt, ist ganz meisterlich charakteristisch für unsere heutige Erfahrung. Oder
man vergleiche etwa eine romantische Erzählung, die ein vorher prophezeites
Erlebnis in seiner Erfüllung darstellt mit Schnitzlers wundervoller Novelle
„Die Weissagung“ in dem Band „Dämmerseelen“. Hier ist trotz einer schein¬
baren Unwahrscheinlichkeit nichts Zufall im metaphysischen Sinn. Der höchste
Augenblick unseres Daseins ist wie ein Bild, das fertig gemalt ist, wie eine
Szene, die gedichtet und vollkommen gestellt ist. Durch wen das geschieht, ist
einerlei, denn alle regiert ein hoher Wille. Man sieht, wie die Dinge inner¬
holb der gegebenen Weltanschauung merkwürdig begründet sind. In dieser
Weltanschauung aber ist für alles Platz. Und ihr tiefer Sinn ist: Alle Dä¬
monie des Lebens ist in uns. Nicht außerhalb. Auch die Natur spiegelt nur
unsere innersten Heimlichkeiten. Auf die Historie gewendet, gibt das ganz
neue und wunderhafte Möglichkeiten. Denn aus dem Winkel kleiner, un¬
scheinbarer Menschlichkeiten ergeben sich dann die großen Geschehnisse.
In diesem Rahmen gewinnt auf einmal das Wort „Schicksal“ eine eigen¬
artige und ungewöhnliche Bedeutung. Sie klebt nicht mehr am Requisit, wie in
jener bestimmten Form des Dramas, die eine menschliche Verschuldung lokal be¬
grenzt sühnt und hohe Wirkungen auf geringe Ursachen zurückführt, um damit ein
billiges Gruseln zu erwecken. Sie steht auch fern jenem nüchternen Rationalismus,
der die Logik aller menschlichen Handlungsweise in den Mittelpunkt setzte.
Was ein individualistisches Drama erträumte und errang, in der Brust des
Menschen seine Schicksalssterne zu finden, das ist hier im Rahmen der erzäh¬
lenden Kunst zur Wahrheit gemacht, aber die Seele ist so reich und kompli¬
ziert, ihre Spiegelungen und Schaltierungen sind so vielfach geworden, daß


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