VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Soergel Dichtung und Dichter, Seite 12


box 36//8
1. Panphlets offorints
Arthur
Schwingungen, Stimmungen sind mehr Sache der Novelle. Kein Wunder denn,
Schnitzler
daß dieser Scheindramatiker ein feiner Erzähler ist. Kein Wunder auch, daß die
Welt seiner Novellen die seiner Dramen ist, die man ja auch „dialogisierte
Novellen“ genannt hat. So veranschaulicht den Schuldgedanken und die Frage
nach der Willensfreiheit eine frühe Erzählung im Stile Maupassants. „Es ist
noch lange nicht klar genug,“ lautet ihr nachdenkliches Schlußwort, „wie wenig
wir wollen dürfen und wie viel wir müssen.“ Frühe wird dann — und sogleich am
vollendetsten — in der Novelle das Erlebnis Tod und Sterben behandelt. Im
Sterben
Jahre des „Anatol“ erscheint — man sollte das nie vergessen — die Novelle „Ster¬
ben“. Die Schilderung eines Liebesverhältnisses von dem Tage an, da der junge¬
Mann durch den Arzt die Gewißheit erhält, daß er höchstens noch ein Jahr
zu leben hat. Langsam stirbt ein Mensch, langsam und doch kürzer eine Liebe.
Das Mädchen soll fort, sie will nicht, sie will mit ihm sterben. Im Süden am
See beginnt das Jahr mit einer Zeit verklärter Ruhe. Dem armen Schwind¬
süchtigen gehen über die Wunder der Welt die Augen auf. Alle Liebesstunden
werden wieder wach. Aber dann tritt Fieber ein, matte Tage kommen. Noch
einmal, schwächer schon, wiederholt er die Bitte, sie solle gehen: denn die er¬
bärmliche Zeit bricht an. Sie aber bleibt. Langsam kommt nun etwas Fremdes
zwischen sie. Er entgleitet ihr, sie ihm: sie gehört ja dem Leben. Und der Wunsch
keimt auf: sie möchte wirklich mit ihm sterben. Er möchte den gräßlichen Gang,
vor dem er Angst, furchtbare Angst hat wie jedes natürliche Wesen, nicht allein
tun. In ihr aber ist neue Lust zum Leben erwacht. Sie harrt aus, aber längst
hat sie sich von ihm gelöst, ehe er stirbt. Weiche müde Worte hat diese Erzäh¬
lung und eine unendlich wehmütige Melodie der Sätze hält sich im Gedächtnis.
Lieutenant Gustl Der ernsten Behandlung des Themas läßt Schnitzler sechs Jahre später mit
dem „Lieutenant Gustl“ die leicht ironische folgen. Ein Nichts ist die Handlung.
Am Abend nach einer Oratoriumsaufführung nennt den Lieutenant Gustl, einen
guten Jungen von nicht gerade großen Geistesgaben und nicht gerade tieferen
Bildungsregungen, ein dicker Bäckermeister, den er in der Garderobe drängte,
einen „dummen Jungen“. Leise zwar, niemand hat's verstanden, doch das ist
gleich: Lieutenant Gustl meint, er muß sterben. Am nächsten Morgen gegen
sechs erfährt er im Café, daß seinen Bäckermeister gestern abend der Schlag
gerührt hat. Die Novelle, eine prachtvoll anschauliche Vergegenwärtigung aller
seiner kranken Gedanken, Stimmungen, Wünsche, Erinnerungen, die der Leut¬
nant auf seinem unfreiwilligen nächtlichen Praterspaziergang hat, ist ein Muster,
wie mit einem Nichts von handlung ein ganzer Mensch, ein ganzes Leben, eine
ganze Schicht für einen Künstler erschließbar ist.
rau
Man sehe sich auf diese Technik hin etwa eine größere Novelle wie „Frau
Vertha Garlan
Bertha Garlan“ (1901) an. Sie schildert an einer Witwe, einer im Grunde
ernsten, gar nicht leichtsinnigen Frau, den ganzen Wahn wirrer Tage, die „letzten
Schauer einer verlangenden Weiblichkeit". Wie lebendig wird hier das Hin= und
herjagen der Gedanken, werden die im Unbewußten wurzelnden wechselnden
Urteile über eine Tat, einen Wunsch, wird das Spiel der Phantasie, das mit
dem, was geschehen ist oder geschehen soll, getrieben wird, wird das nahezu
traumhafte ungeordnete Durcheinanderschießen der Gedanken und Vorstellungen!
Der Weg
Danach hat sich Schnitzler mit seinem „Weg ins Freie“ (1908) auch am Roman
ins Freie
versucht. Er ward ein Plauder= und Bekenntnisbuch. Es wird, wie immer bei
Schnitzler, viel beredet; man erörtert die bekannten Schnitzlerschen Fragen, dazu,
und das am meisten, eine neue, die Judenfrage in Österreich. Juden sprechen
508