VI, Allgemeine Besprechungen 2, Marcel Salzer Programmheft, Seite 32

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2. Cuttings
werden liess, einen gewaltigen Eindruck
machten.
Wie eine Erlösung aus einem schweren
Traum wirkte zum Schluss die Humoreske
„Die schöne Frau“ von Hermann Bahr, die
der Recitator mit all der Schalkhaftigkeit und
guten Laune vortrug, die den Wienern, wenn
sie sich den Charakter durch die Politik
nicht verderben lassen, eigen sind.
Herr Salzer hätte die beinahe zwei
Stunden dauernde Reihe von Vorträgen nicht
besser abschliessen können, und wenn
er, wie wir hoffen, nach Solothurn zurück¬
kehrt, möge er uns wieder etwas so echt
Wienerisches als Zugabe zu seinen ernsten
Darbietungen bescheeren.
St. Gallen, Ostschweiz (13. 1. 99). Herr
Marcell Salzer besitzt eine aussergewöhnliche
Modulation der Stimme und grosse Voll¬
endung in der Application auf seine Sujets
verbunden mit köstlicher Mimik. Es liegt in
ihm ein tief angelegter Humor, der oft ohne
Präludien als richtiger Schalk hervortritt.
Tageblatt der Stadt St. Gallen (20.0.99).
Für Humor wie Tragik, für das stolze Pathos
Schiller’scher Diction wie für die Gewalt
elementarer Laute in einem „Pidder Lüng“,
für Selbstironie und graciöses Spiel wie für
die verhaltenen Töne der Schwermuth und
Sehnsucht hat der Künstler ein Organ, und
seine Seele ist einem feinen und zarten In¬
strumente gleich, dem sich auch die ge¬
heimsten Schwingungen des dichterischen
Empfindens mittheilen. Es ist wie eine
Offenbarung, wenn Salzer eine vielleicht un¬
scheinbare Strophe aufblühen lässt, wie ein
Aschenbrödel im Märchen — Alles glänzt
und leuchtet und ist junger, süsser Schön¬
heit voll. Nur reife Kunst vermag so mit¬
zutheilen, nur eine geradezu dichterische
Natur so zu empfangen, dass der Einsatz
allen Fleisses sich derurt reich in der Wieder
gabe äussern kann.
St. Galler Stadt-Anzeiger (29. 9. 99).
Salzer’s Kunst hat nichts mit der süsslichen
Lyrik der Romantik gemein; es ist ein
ingendstarker Realismus mit dem kräftigen
Erdgeruch der modernen Zeit.
Thun: Täglicher Anzeiger (27.2.1900).
Als Glanznummer des Abends darf wohl
Ernst von Wildenbruch's—HöVelle—„Das
Orakel“ angeschen werden. Der Dichter
fordert den Leser auf, einmal niederzu¬
schreiben, was ihm im Laufe einer schlaf¬
losen Nacht mit greifbarer Deutlichkeit vor
die Scele tritt. Längstvergessene Bilder aus
der Jugendzeit ziehen an seinem geistigen
Auge vorüber, eine bunte Gallerie von dahin¬
gegangenen und verschollenen Freunden und
Bekannten und mit ihnen verknüpfter Er¬
innerungen, Eindrücke und Begebenheiten be¬
herrschen in unheimlicher Deutlichkeit sein
Bewusstsein. Auch dem Dichter ist in einen
schlaflosen Nacht eine solche Gestalt wieder
erstanden. Die merkwürdige, die Lachlust
und Bosheit der übermüthigen Knaben heraus¬
fordernde Situation, in welcher er seinen ge¬
quälten, verspotteten und heimwehkranken
Kameraden „Mops“ zum letzten Male sicht
und deren ernste Folgen lieferten dem Dichter
den Stoff zu der ergreifenden Novelle. Wie
oft begegnen wir in der Litteratur aller
Völker (z. B Dickens, Alphonse Daudet u. a. m.)
der pathetischen Gestalt des verstossenen,
ausgelachten und unverstandenen Kindes,
das seines tiefen Gemüthes wegen so schwer
leiden muss und seinen Jammer Niemandem
klagen kann.
Toggenburger Anzeiger, Wattwil (31.3.
1000). — Es waren zwei Stunden seltensten
Hochgenusses, die Marcell Salzer dem
lauschenden Publikum mit seiner Kunst be¬
reitetc. Ein Theil seines Erfolges liegt in
der gelungenen Stoffauswahl, der bedeutendere
jedoch in dem dichterischen Empfinden und
seiner phänomenalen Beherrschung des Sprach¬
organs. Was Salzer spricht, hat Seele,
Temperament, pulsirendes, warmes Leben, ist
begleitet von ausdrucksvollem Mienensviel.
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zwei Stunden lang in steter Spannung zu
halten.
Wüdentweil: Allg. Anzeiger von Dürich¬
see (5. 9. 1899). Salzer’s Vorträge boten uns
einen künstlerischen Genuss, wie wir ihn
selten zu hören bekommen.
Winterthur: Neues W. Tagblatt (10 10.
90.) Wir hoffen, dass der reiche Erfolg seines
Debüts Herrn Salzer veranlassen wird, uns
auch in Zukunft mit seinem Besuche zu be¬
ehren. Herr Salzer ist in der That ein Reci¬
tator von ganz hervorragender Begabung und
von einer so vollendeten Schulung, dass die
Sicherheit und Natürlichkeit, mit der er die
Gefühle, Stimmungen und Sprache der ver¬
schiedenartigen Gestalten seiner Darbietungen
zum Ausdruck bringt, kaum mehr die
Schwierigkeit der Kunst ahnen lässt, die dem¬
selben zu Grunde liegt Allerdings hat die
Natur auch Herrn Salzer Alles gegeben. was
für einen vollendeten Recitator von Nöthen
ist: ein höchst sympathisches, vollklingendes
und modulationsfähiges Organ, das, ver¬
bunden mit einem lebhaften und geschmeidigen
Naturell ihm erlaubt, in dramatischen
Schöpfungen die Stimmen der verschiedenen
Charaktere, alten wie jungen, männlichen wie
weiblichen täuschend nachzuahmen, ohne je
in Carricatur oder Uebertreibung zu ver¬
fallen. Gleich der Vortrag der ersten Nummer,
„Das Orakel“ von Wildenbruch, war eine
Glanzleistung und der Eindrück, unter dem
das Publikum nach Anhörung dieser Novelle
stand, war ein so überwältigender, dass es
einiger Zeit bedurfte, bis der Bann gebrochen
und ein rauschender Applaus seiner Be¬
wunderung Ausdruck zu verleihen vermochte
Nicht minder dankbar zeigten sich die Zu¬
hörer für die Recitation von sechs Liliencron¬
Gedichten Man gewann sofort den Eindruck,
in Herrn Salzer. den denkbar besten Interpreten
dieser neuen Schule vor sich zu haben. Ja,
da war Alles neu in diesen Gedichten, Form
und Inhalt, in den ernsten wie in den
heiteren, aber Tragik, Gemüth, Tiefe und
sprudelnder Humor, Alles wurde vom Reci¬
tator so wahrheitsgetreu, so unmittelbar und
plastisch dargestellt, dass sich dem Neuen
gleich willig alle Herzen öffneten und man
unmerklich von tiefster Erschütterung zu
höchster Lust-hinübergeleitet wurde.
Wie tief tragisch wirkte „Pidder Lüng“
und wie lachte Herz und Mund beim „Ge¬
witter“, waren das Bilder und Töne und
Weisen, so neu und doch so traut, so innig,
so einschmeiehelnd, wie man ähnliche noch
nie gehört hatte.
Neue Züricher Zeitung (8. 1. 99). Aus¬
zug aus dem Feuilleton „Jung-Wien in
Zürich“. (Zum litterarischen Abend des
Lesezirkels Hottingen). Wien! Mag man
auch hier zu Lande manchmal das Haupt
schütteln, wenn von politischen und natio¬
nalen Verhältnissen Oesterreichs die Rede ist,
dem Zauber, den österreichische Kunst und
Dichtung auf Jeden ausüben, vermag sich
Niemand zu entziehen. Es ist ja auch da
Vieles so anders, so fremdartig! Meist zu
üppig, zu farbenprangend; „luxuriöse Schön¬
heiten“ nannte einmal ein Engländer die
Wienerinnen, und dies Wort gilt auch von
der schönsten, cocettesten Frau Wiens
der Wiener Muse. Aber die süsse, stolze
Anmuth, mit der sie sich bewegt, der feine
Geschmack, mit welchem sie alles Bunte zu
augerquickender Harmonie ordnet, erobert ihr
alle Herzen viel schneller, als ihrer steiferen,
mageren und gesellschaitlich gewandteren
norddeutschen Schwester. Oft wechselt sic
das Kleid, bleibt aber immer dasselbe liebe,
verwöhnte, grosse Kind, das nicht erst, wie
es sich gebührt, an die Thür klopft, sondern
sie mit frischem Lachen aufreisst, ein herziger
vertrauter Gast.
Der wienerischsten aller Künste, der
Musik, haben Wiener Baumeister hier in
Zürich das Theater und die Tonhalle erbaut,
besonders letztere trägt lustig und prunk¬
beim Schweizer Publikum verwandte Saiten
mitklingen zu lassen, die Alpen thürmen sich
als Hintergrund dieser Dichtungen, schlichtes,
starkes Gefühl und ein reiches Innenleben
bilden ihren Kern.
Der Lesezirkel Hottingen, der den
Zürichern vor zwei Jahren Rosegger lebendig
und leibhaftig hercitirte, hat es nun über¬
nommen, Vermittler einer ganz neuen, eigen¬
artigen und reizvollen Bekanntschaft zu
werden. „Jung-Wien, die Elite der modernen
Wiener Poeten, soll uns vorgeführt werden,
und Marcell Salzer, ein geistvoller Feuilletonist
und congenialer Recitator in einer Person,
wird am nächsten Montag Abend uns mit
jener anmuthvollen Kraft, die man ihm aller¬
orten nachrühmt, in das neue Wien entrücken,
in die Stadt Hermann Bahr’s, Arthur
Schnitzler’s, Peter Altenberg’s.
Dieses neue litterarische Wien, wie ver¬
schieden ist es doch von dem alten! Was
haben diese müden, aufgeregten, nerven¬
streichelnden und empfindungsschaukelnden
Pocten mit Grillparzer, mit Bauernfeld, mit
Anzengruber zu thun? Suchen sie uns nicht,
der Eine auf diese, der Andere auf jene
Weise, den modernen Menschen darzustellen,
statt altmodischer Ideale, der Eine, indem ei
tief in die eigene Brust greift und uns seine
geheimsten Scelenschwingungen mitmachen
lässt, der Andere, indem er uns Alles, was
modernes Grossstadtleben zu Tage fördert,
vor die Augen führt? Doch gemach, ein
Gemeinsames ist geblieben! Mögen sich die
Jungen so realistisch und neuartig gebärden,
wie sie wollen, mag die litterarische Physio¬
gnomie des Einen der des Andern noch so
unähnlich sein, es ist Wiener Sonne, die auf.
sie Alle scheint, und die hat gar ein mildes,
verklärendes, versöhnendes Licht, das Licht
der Schönheit.
Ein bekannter Wiener Feuilletonist be¬
hauptete einmal, wenn das Publikum der be¬
rüchtigten Wiener Verbrecherspelunken zu
tanzen anfange, sehe es edel und anmuthig
aus, trotz aller inneren Rohheit. Darum
giebt es keinen österreichischen Naturalismus
im norddeutschen Sinne. wird es nie einen
geben. Im tiefsten Grunde werden dem
Schweizer die meisten Erzeugnisse des nord¬
deutschen Naturalismus unverständlich sein,
weil sie auf einer hier unfassbaren Schroff¬
heit der Standesunterschiede beruhen. Das
tritt in Oesterreich, wie im Süden überhaupt,
viel mehr zurück, das allgemein Menschliche
viel mehr hervor. „Menschen, Menschen san
mer Alle“, heisst’s in einem beliebten Wiener
Gassenhauer, und die Durchführung eines
gleichmüthigen, oft nur zu nachsichtigen
Humanitätsprincips lässt den Oesterreicher
milde und versöhnlich auch im Verkommensten
las rührend Menschliche eitdecken. Wenn
ins nun im Allgemeinen ein Fehler sein mag,
dem Dichter steht es wonl an. Ist es doch
das schönste Wort, das Gottfried Keller aus¬
gesprochen: „Selbst der Unhold ist mit einem
goldenen Bändchen an die Menschheit ge¬
fesselt.“
So haben wir denn auch von „Jung¬
Wien“ das Schönste zu hoffen, besonders.
da es bei uns einen Interpreten findet, wie
Marcell Salzer. Bei dem jungen, nervösen
Wienern schwankt und wankt Alles. Darin
besteht eben ihre grosse Kunst, dass sie das
Huschen von Licht und Schatten der Stim¬
mung festzuhalten verstehen, und darin be¬
steht die Eigenart Marcell Salzer’s, dass er,
gleichsam ein zartes, bei der leisesten Be¬
wegung mitschwingendes Instrument
jece
Scchsche Beruhrung in Tone übersetzt. Dabei
ist dieser „kleine Wiener mit den geist¬
sprühenden Augen“ ein feiner Kenner der
modernen Litteratur; die eleganten kleinen
einleitenden Charakteristiken, die er voraus¬
schickt, sind Meisterwerke des Stils, anregend
und belehrend zugleich. Und mit geschickten
Händen verstcht er es, durch kleine
Streichungen alles Anstössige aus seinen
Texten zu entfernen, wobei der geschmack¬