VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 67

2. Cuttings
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408 b R. M. Meyer: Das literarische Jung=Wien. 1888888
folgt Alfred v. Berger (geb. 1853), freilich
hinter jedem Spiel der tödliche Ernst („Der
selbst schon ein älterer, bei dem die Ver¬
Schleier der Beatrice“ 1900). Am geist¬
wandtschaft mit neuerer Art sich nur in dem
reichsten führt die hysterische Komödie „Der
Hang zu Puradorien und in psychologischer
grüne Kakadu“ (1899) diesen Gedanken
aus: wie die frivole Gesellschaft am Vor¬
Feinmalerei zeigt („Dramaturgische Vor¬
träge", 1890, „Drama und Theater“, 1900).
abend der Revolution sich am Spiel mit dem
Furchtbaren ergötzt, bis plötzlich das furcht¬
Aber herrschend ist doch jener Drang, sich
mit den Dingen auseinanderzusetzen, indem
bare Gesicht der Wahrheit hervorgrinst.

nicht wie der Kritiker
man sie bespricht
Von dieser Anschauung aus nähert sich
seinen Gegenstand, sondern wie der Natur¬
Schnitzler, wie Andrian und Beer=Hofmann,
arzt seinen Kranken „bespricht“. Der Drang,
wie Lothar und Hofmannsthal dem roman¬
sich in fremde Seelen einzuleben, hat in jener
tischen Spielen mit dem Theater. Wahrheit
übersetzertätigkeit Otto Hausers oder Karl
und Wirklichkeit gehen durcheinander in der
Federns (geb. 1868) fast einen so leidenschaft¬
Seele des Todeskandidaten („Leutnant Gustl“
lichen Zug der Unruhe, wie in der paradoren
1901) wie in dem Traum von der Seelen¬
Welterlösungsphilosophie des unglücklichen
wanderung („Lebendige Stunden“, 1902).
Otto Wenninger (geb. 1880: „Geschlecht
Die Menschen werden zu Figuren, die am
und Charakter“, 1903), oder in den immer
Draht ihre seltsamen Sprünge machen
weiter ab von Klarheit in musikalische My¬
(„Marionetten“, 1906) und, von einer Leiden¬
stik herabsinkenden kritischen Rhapsodien des
schaft beherrscht, ihren Rundtanz der Pas¬
geistreichen Rudolf Kassner („Die Moral der
sionen ausführen („Reigen“, 1900); Schickun¬
Musik“, 1905). Jüngere, noch jüngere Kräfte
gen regieren sie, so seltsam, daß auch das
wie Max Mell scheinen von ähnlichen „Sehn¬
Tragische nur ironisch vorgetragen werden
suchten“ (um eine ganz modernere Form zu ge¬
darf („Dämmerseelen“ 1907).
brauchen) erfüllt, ob sie sie auch mit festerer
Aber wieder steht auch hinter seiner eigenen
Hand in reine Gestalt zu ballen suchen („Die
Frivolität tiefer Ernst. Möchte man ihm
drei Grazien des Traumes“, 1906).
oft zurufen wie Mephisto dem Faust: „Du
„Der Luft, dem Wasser wie der Erden
sprichst ja fast wie ein Franzos“ fehlt es
entwinden tausend Keime sich, im Trocknen,
gerade auch den späteren Erzählungen und
Feuchten, Warmen, Kalten!“ Wir sehen sie
Dialogen nicht an jener Kaffeehausluft der
an der Arbeit. Das alte, gemütliche, patri¬
Wiener Maupassants, so stehen daneben
archalische Wien ist dahin; Ferd. v. Saar
ernste, grüblerische Romane („Frau Bertha
hat ihm in den „Wiener Elegien“ das Klage¬
Garlan“, 1901) und Dramen („Der einsame
lied gesungen. Ungerecht aber ist die immer
Weg“, 1904). Seine künstlerische Stärke
wiederkehrende Behauptung, es sei mit Wien
zeigen sie nicht — die liegt in der energi¬
überhaupt zu Ende. Eine mächtige Umge¬
schen Konzentration, die selbst sein schönstes,
staltung hat in das Wien der Barockpaläste
(„Liebelei“,
stimmungsvollstes Schauspiel
und der engen Gassen die neuen Meister¬
1895) epigrammatisch zuspitzt; aber sie zeigen
werke der Schmidt und Hansen und Ferstel
die Stärke der Persönlichkeit, des suchenden
gezaubert, um die die Welt die alte Kaiser¬
Menschen, der sich über all die gefährliche
stadt beneidet. Die politische Physiognomie
Leichtigkeit der Luft im Capua der Geister
der altliberalen Stadt hat sich gewandelt;
zu höheren Sphären zu erheben sucht.
aber neben dem vielen Unerfreulichen hat
Schnitzler ist unter den Wienern der ein¬
die Metamorphose großartige Pläne für
zige Psycholog, wenn man an die Kenntnis
die Verschönerung und gesundheitliche Bes¬
individueller Seelen denkt — denn typische
serung gezeitigt und nicht Verächtliches
Seelenzustände wissen freilich auch Altenberg
auch schon geleistet. Wien ist nicht mehr
und noch mehr Hofmannsthal eindringend
die einzige deutsche Kaiserstadt; aber einzig
zu erfassen. Greifbare Gestalten wie in der
wird es bleiben.
„Liebelei“ oder den Novellen weisen wieder
Zwei Namen wie Hofmannsthal und
zurück auf die ältere Wiener Kunst, die nicht
Schnitzler hat Berlin nicht zu nennen; und
beim Dichten grübelte, wie zuweilen freilich
mag Gerhart Hauptmann als literarische
auch Schnitzler tut („Der Schleier der Bea¬
Persönlichkeit beide überragen — den Reich¬
trice": „Der Ruf des Lebens“ 1905), son¬
tum eigentümlicher Talente besitzen wir nicht,
dern fest erschaute Figuren hinstellte. Natür¬
der jene beiden umgibt. Preußen ist immer
lich ist deren Tradition nie völlig erstorben:
monarchisch regiert, Österreich oft genug bei
sie hat sich in Erzählern wie Emil Ertl (geb.
scheinbar monarchischer Spitze von seiner
1860) mit der moderneren Lust an der de¬
Aristokratie beherrscht worden. So steht es
taillierten Ausmalung von Seelenzuständen
noch heut. Die Paläste dieses Dichteradels
verbunden („Die Leute vom blauen Guck¬
alle mit
wachsen in rascher Blüte auf
guckshaus“ 1906), oder weicht auch gerade
prächtigen Fassaden, reich geschmückt, geist¬
absichtlich diesem gefährlichen Boden aus, wie
reich erdacht; nicht alle in dem Innenbau
der fast allzu sprachgewandte Übersetzer dä¬
haltend, was die Straßenseite verspricht,
nischer und chinesischer und holländischer Lyrik
manche aber doch erfüllt von hoffendem
Otto Hauser (geb. 1876) es in seinen letzten
Leben. Wollten sie etwas langsamer bauen
Werken zu tun scheint („1848“ ersch. 1906).—
vielleicht entstände manches Schloß, das
Ebensowenig fehlt es an Fortsetzern der alten
Wiener Kritik: auf Kürnberger und Speidel noch späte Generationen bewundern würden.