VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 1

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2. Cuttings box 37/4

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Zwitterkunst.
Von
Felix Stössinger.
Zeiten sind groß, irrelevant oder voll Sehnsucht nach Größe. Große
Zeiten bringen Kunstwerke aus eigenen Wesenszügen zusammengesetzt hervor.
Irrelevante begnügen sich mit blinder Nachäfferei, mit Klischeefabrikaten und
Epigonenverwässerung. Nach Größe sich Sehnende üben Kunsttäuschungen
aus, suchen den Charakter jeder Kunstart einer anderen beizumischen, ein Ton¬
gestammel für eine Symphonie, eine sentimentale Novelle für eine lyrisch
durchtränkte Erzählung, den Willen zum Großen für das Große selbst auszu¬
geben. Im engen Bett des eigenen Empfindungslebens reckt sich eine gern¬
große Gefühlswelle zum Leidenschaftsmeere aus, und eine mit Worten prunkende
Dichtung entlehnt aus alten Beständen Probleme des Lebens. Ansere Zeit
hat von diesen Epochen manches übernehmen müssen. Im Wehekampf sich
umformender Kulturen muß Neues gesucht, Neues geprobt werden. Mann
und Weib kreuzen sich stärker als sonst, und ihr vollendeter Typ kommt eben¬
so selten vor, als er von den Zeitgenossen verachtet wird. Die Formen, die
inneren Bestandteile der Kunstarten vermischen sich, Zwitterkunstwerke ent¬
stehen, und ein Gebilde tritt auf, das den dritten Teil eines Weges darstellt,
den ich zu Beginn schnell durchlaufen will.
Erstens: Von der Verwandtschaft der Gattungen (Musik, Poesie, Plastik)
leitet sich der uralte Gedanke des Gesamtkunstwerkes ab. Cicero ahnke ihn,
als er die Worte schrieb: „Omnes artes quasi cognatione quadam inter se con¬
tinentur“ die Tragiker und Lyriker (diese bis in Meistersingerzeit) bildeten
ihn bewußt zu starker Vollendung aus. Fortschreitende Zeil forderte von
jeder Kunstgattung immer Höheres. Detailierung wurde nötig, die Musik
sollte ebenso kunstvoll sein wie das Wort und forderte ihre eigene Lebens¬
arbeit. Darum ist auch die Renaissance der Oper, die Kunst der Lully, Gluck,
Mozart, Weber nur zwitterhafte Ausführung des geahnten Gesamtkunstwerkes.
Erst in Wagner bildet sich die Masse inneren Kunstempfindens so aus, daß
ein vollendeter, sich ergänzender Ausdruck durch Wort und Ton möglich wird.
Zweitens: Aus einer Gattung den Zweck anderer mitsprechen zu lassen,
ist das Dendant. Eine Begleiterscheinung verfallender, degenerierender Gro߬
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