VII, Verschiedenes 2, 50ster Geburtstag, Seite 70

5oth Birthday box 39/1
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungeausschnitte.
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 211
(Liest die meisten Zeltungen und ist das
bestorganisierteste Bureau Deutschlands.)
sältere Bruder Anatols zu sein; denn einen Flaneur mit 40 oder 45
1e „K Aeseiger
Jahren, einen Mann jenseits der Schaffensmitte, der immer nur den
Schürzenschleisen und Automobilschleiern nachläuft den können wir
Erfurt
fünf Akte hindurch nicht ertragen). Aber immerhin: er bleibt Re¬
Ort: —
präsentant der Schnitzlerschen Welt. Bruder jenes Mädchens, das
Tüber die Leiche des Vaters weg, gelockt von dem „Ruf des Lebens“ in
Datum:
zwei offene Leutnantsarme springt, Bruder jenes Leutnants Gustl,

dem das Duell von morgen heute den Angstschweiß aus den Poren
treibt, und jenes armen Schwindsüchtigen, der im „Sterben“ hinsiecht,
während sein Mädel, eine Magdalena, neu dem Leben entgegenatmet.
Immer wieder ist es „Der Ruf des Lebens“ den Schnitzler
dichten will, aber es wird gewöhnlich ein Sterben Reden nicht auch
/Zu Arthur Schnitzlers 50. Geburtstag.
die Menschen denen das Leben am teuersten gilt, sehr viel und häufig
vom Tod? Es ist, als schriebe er sich damit eine Angst vom Leibe.
Von Hans Wantoch (Wien).
Und sehr mutig sind auch seine Helden nicht, im „Freiwild“ nicht, wo
Ein Stück Wien ist in seine Werke versponnen. Theresianische
der eine den anderen hinterrücks über den Haufen knallt, im „Jungen
Zärtlichseiten singen in seinem Blut, und von der Darstellung des
Medardus“ nicht, wo der Held kein Täter ist, sondern ein Dulder, und
modernoh Lebens weicht er immer mehr sim „Medardus“, im „Ruf
dann der Leutnant Gustl ... Auch Grillparzers Helden sind keine
des Lehens“ in jene still verrinnenden Zeiten zurück, in denen sich
Helden. Rustan deilamiert: „Und die Größe ist gefährlich, und der
die Begriffe österreichisch und wienerisch durch Schubert=Weisen
Ruhm ein leeres Spiel: was er gibt, sind nicht'ge Schatten, was er
und Grillparzer=Dichtungen am besten erfüllt haben, in denen das
nimmt es ist so viel.“ Norddeutsche Naturen werden anders denken,
harte, feste und kantige Dasein in Versonnenheit, in Traum und
aber Grillparzer war Wien, und Schnitzler ist Wien, und was Grill¬
Märchen vergleitet. Denn es sind immer Märchen gewesen, was
parzer über seine Dichtung gesetzt hat, dies ließe sich auch über Schnitz¬
Schnitzler geschrieben hat. Auch dort, wo er den Vibrationen
lers Dichtung setzen: „Wenn du vom Kahlenberg ...“
der modernsten Seele nachgespürt hat, im „Zwischenspiel“ etwa, da
Hier ist er geboren (am 15. Mai 1862) und aufgewachsen Sohn
drang er so tief und so innig ins heimliche Fühlen, daß es ihm
eines Arztes, Bruder eines Professors der Medizin und selber ein!
langsam und sacht ins Ungewisse, ins Unwahrscheinliche und Mär¬
Arzt, der einmal von sich gesagt, er hätte ohne diese wissenschaftliche
chenhafte verflimmerte. Ein Märchen vom Lieben und vom Sterben
Kenntnis nie sein „Sterben“ und nie „Die letzten Masken“ dichten
ist sein ganzes Werk. „Anatol“ war sein erstes Buch, das Buch
können. Wo die Stadt ins Land verrinnt und die sauften Hügelketten
eines soignierten Flaneurs, und „Sterben“, diese melancholische
des Kahlengebirges den Menschen in die Fenster schauen, dort ist sein
Nachdenklichkeit, sein zweites. Er hat wundervoll tiefe Dinge über
Heim, von dem ein bestrickendes Aroma Altwiener Patriziertums!
die Liebe gesagt und erstannlich lässige, frappierend vornehme, über
ausgeht. Die ganze Längswand des Arbeitszimmers, dreifach hinter¬
den Tod, und er hat, ganz früh schon, im Anatol“ bereits, jene
Formulierung gefunden, in der uns das Märchen zeitlich näher einandergereiht, nehmen die Bücher und Folianten ein, unter denen!
historische Werke überwiegen. Es vergehen ihm täglich viele Stunden!
wenn man so sagen darf — realistischer
gerückt, moderner und —
ernster Arbeit, die den Wienern, die ihn immer noch als den Schöpfer
erscheint: den Somnambulismus, die Telepathie, die Suggestion,
des „jüßen Mädels“, als den Schnitzler der „Liebelei“, des „Reigen“,
deren rätselhaftes Wesen, die Geliebte des Herrn von Sala auf
des „Anatol“ sehen, höchst verwunderlich wären: er aber sagt mit einer!
seinem „Einsamen Weg“ erfüllt und die ganz in samtene Dunkelheit
seltsam zusammengerafften Energie: „Man muß sich zur Arbeit?
gehüllten letzten Novellen.
manchmal zwingen, jeden Tag sein Pensum; wenn man einmal eine
Ein unbändiges Leben=Wollen ist in allen Gestalten Schnitzlers,
Sache hat, dann durch! Denn es ist wie bei dem Astronomen, der zu#
eine schwelgerische Daseinsfreude und ein kennerisches Genießen des
lange durchs Fernrohr schaut: das Firmament beginnt plötzlich zu?
Seins wie es in den Rebengeländen rings um die Stadt der
flimmern.“
Phäaken erblüht und daheim ist. Schon in dem wundervollen einen
Und diese Arbeitsmethode mag es auch sein, die den Werken?
Akt der „Lebendigen Stunden“, da spricht es diese Vormärzgestalt
Schnitzlers jenes Mühelose und Leichte, das Selbstverständliche und
des Anton Haushofer gegen den Sohn. dem der Tod der Mutter
Zwingende gibt. Die Wiener freilich sehen in ihm weniger den Nach¬
zum Gedicht wird, aus: „Was ist denn deine ganze Schreiberei,
spürer letzter jeelischer Essenzen, als den lächeinden, tändelnden
und wenn du das größte Genie bist: was ist sie denn gegen so
Anatol=Flaneur, sie nehmen die Tragik seiner Werke nicht recht ernst
eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine Mutter hier
wie sein kleiner Bub, dem er den Inhalt von „Der Schleier der
auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns geredet hat, oder auch
Pierette“ erzählt hat, und der, als er auf die Frage nach dem Schluß;
geschwiegen — aber da ist sie gewesen — da! Und sie hat gelebt,
die Antwort bekam, „Zum Schluß sind alle tot“ — gesagt hat: „Dasr
gelebt!“ Und Schnitzler hat in diesem Kleinod seiner Kunst ein
sieht dir wieder einmal ähnlich, Papa.“ Die Wiener haben bis auf
wenig gegen sich selber polemisiert, hat mit der souveränen Allüre
den heutigen Tag jenen montänen jungen Mann nicht aus dem Ge¬
der Großen sich selber in die Feder und über den Papierrand
dächtnis verloren, der ganze und halbe Tage im Café Griensteidl saß,
geschaut und hat in diesem Einakter zum ersten Male jene leise,
tief in die Stirn die Heinische Schnitzlerlocke, die beinahe so populär#
Heinische Selbstironie gewonnen, die als Kontrapunkt in
geworden ist wie die rote Weste Gautiers. Noch durch ein anderes
meisten seiner späteren Werke mitschwingt und in dem letzten, dem
Werk neben der Liebelei ist er hier populär und berühmt, durch die
„Weiten Land“, eine prickelnde Kontrastierung zwischen weithin
Geschichte vom „Leninant Gustl“, die ihm die Offizierscharge gelostet¬
hallender Bezeichnung und engbrüstigem Inhalt gibt. Auch da ist
und für lange den Weg ins Hoftheater versperrt hat.
— freilich in den ungeistigsten, animalischen Formen
wiederum
solch ein Stück Wille zum Leben gestaltet, in dem Fabrikanten
Hofreiter (dünkt er Euch nicht der minder Liebenswürdige, weil