1. 50th Birthday
box 39/1
Wien, Sonntag
Seite 12
—
Jahrelang ist Schnitzler der Dichter des Anatol und
des süßen Mädels gewesen, viel mehr wußte man von
ihm und von dem ganzen jungen Wien nicht. Sind diese
beiden Gestalten nicht schattenhaft geworden? Zwei Wiener
Typen, die es vielleicht bald nicht mehr geben wird. Das
süße Mädel hat längst nicht mehr die berühmte Träne;
im Augenwinkel, sondern ist ein ernstes, selbständiges
Bureaufräulein, eine nüchterne Schreibmaschinistin. Auch
der Jüngling Anatol spielt nicht mehr mit selbstgefälligen
Schmerzen und frühgereiften zarten und traurigen Ge¬
fühlen, sondern ist jetzt meistens ein vernünftiger junger
Mann, der es vorwärts bringen will, oder ein abge¬
härteter Sportsman. Der Anatol, der Max, der Theobor,
der Fritz, die Christine und die Mitzi und wie sie alle
heißen, sie passen absolut nicht mehr in das Wien
von 1912.
Es hat aber eine Zeit gegeben, da war wirklich bei¬
nahe jeder zweite junge Mensch ein Anatol; wo es den
Anschein hatte, als ob sich die Wiener Wirklichkeit nach
der Jungwiener Literatur richten würde. Oskar Wilde
hat einmal in seiner paradoxen Weise gesagt, daß die
englische Natur die Präraffaeliten nachahme. So haben
auch damals manche Wiener Gesellschaftskreise Artur
seiner Dialoge, seiner
Schnitzler kopiert und im Ton
Novellen geplaudert, geflirtet, verliebt, zärtlich und
melancholisch getan. Das war die Zeit, in der Schnitzler
sozusagen als Dichter des amourösen Wien, der
Sevarees, der Rendezvous, der Garconwohnungen galt.
Aver auf diese galanten Zeiten folgt bald die natürliche
Reaktion, die Bitterkeit des „Freiwild“ des „Vermächtnis“
die Satire des „Lieutenant Gustl“, den jeder einmal kennen
gelernt hat. Allmählich taucht dann in Schnitzlers Dichtungen
das wirklich ernste Wien auf. Die Berta Garlan ist die erste
der modernen Wiener Wirklichkeit nachgezeichnete Frauen¬
gestalt, während die Margarete in „Literatur“ ein ironisch
gesehener Typus ist. Die Menschen des „Einsamen Weg“ ##
sind eine Kreuzung von Ibsentum und Wienertum: d
um zwanzig Jahre älter und bitterer gewordene Anatol¬
Generation. Nach und nach bilden die Gestalten Schnitzlers
eine Art besonderer geschlossener Wiener Gesellschaft, und
im „Weg ins Freie", im „Weiten Land“ glaubt man oft
die Vorbilder zu erkennen.
Schnitzler hat auch einiges geschrieben, was i
historischer Zeit spielt, in Bologna und Paris. Aber sein
eigentliches Gebiet ist doch das heutige Wien. Er selbst
entstammt ja zwei alten Wiener Familien. Sowohl vom
Vater her, dem berühmten Laryngologen Johann
Schnitzler, wie von der Mutter, deren Vater ebenfalls ein
angesehener Wiener Arzt war. Und die Eindrücke dieser
Jugend werden namentlich in den allerersten Büchern und
Stücken lebendig. Bunte Eindrücke aus der Theatersphäre,
denn sein Großvater war ja Arzt des Carl=Theaters und
mag dem Enkel manches erzählt haben, Dann ernstere Er¬
fahrungen aus der Welt des Allgemeinen Krankenhauses,
wo Schnitzler als Student und Sekundararzt manches
Jahr verbracht hat. Und auch die Beobachtungen, die er
in der Wiener Gesellschaft gemacht hat, kehren alle wieder,
in einer veränderten durchgeistigten Gestalt, Jawohl, aus
jeder Zeile, die Schnitzler geschrieben hat, erkennt man
den mit seinem ganzen Fühlen und Sinnen nach Wien
Zuständigen. Das schablonenhafte, gerührte und fidele
Duliäh= und Heurigen=Wienertum wirb man freilich in den
Werken dieses Wiener Dichters vergebens suchen. Es ist
mehr ein Wienertum der inneren intellektuellen Bezirke.
Seine Menschen sprechen selten im Dialekt, sondern in
einem legeren Hochdeutsch von wienerischer Diktion. Es
sind moderne Wiener von ganz besonderer Art. Diese
Männer und Frauen sind alle ein wenig melancholisch
und grüblerisch angehaucht, haben komplizierte Gemüter,
empfindliche und überreizte Nerven und quälen sich gern
mit spitzfindigen seelischen Konflikten, und namentlich die
Frauengestalten des reifen Schnitzler sind wunderliche Ge¬
schöpse, keine Spur mehr vom harmlosen süßen Mädel,
Aber wer genauer hinsieht, erkennt doch die geheimen
Fäden, die von der Christine zur Genia, vom Anatol
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Wien, Sonntag
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Jahrelang ist Schnitzler der Dichter des Anatol und
des süßen Mädels gewesen, viel mehr wußte man von
ihm und von dem ganzen jungen Wien nicht. Sind diese
beiden Gestalten nicht schattenhaft geworden? Zwei Wiener
Typen, die es vielleicht bald nicht mehr geben wird. Das
süße Mädel hat längst nicht mehr die berühmte Träne;
im Augenwinkel, sondern ist ein ernstes, selbständiges
Bureaufräulein, eine nüchterne Schreibmaschinistin. Auch
der Jüngling Anatol spielt nicht mehr mit selbstgefälligen
Schmerzen und frühgereiften zarten und traurigen Ge¬
fühlen, sondern ist jetzt meistens ein vernünftiger junger
Mann, der es vorwärts bringen will, oder ein abge¬
härteter Sportsman. Der Anatol, der Max, der Theobor,
der Fritz, die Christine und die Mitzi und wie sie alle
heißen, sie passen absolut nicht mehr in das Wien
von 1912.
Es hat aber eine Zeit gegeben, da war wirklich bei¬
nahe jeder zweite junge Mensch ein Anatol; wo es den
Anschein hatte, als ob sich die Wiener Wirklichkeit nach
der Jungwiener Literatur richten würde. Oskar Wilde
hat einmal in seiner paradoxen Weise gesagt, daß die
englische Natur die Präraffaeliten nachahme. So haben
auch damals manche Wiener Gesellschaftskreise Artur
seiner Dialoge, seiner
Schnitzler kopiert und im Ton
Novellen geplaudert, geflirtet, verliebt, zärtlich und
melancholisch getan. Das war die Zeit, in der Schnitzler
sozusagen als Dichter des amourösen Wien, der
Sevarees, der Rendezvous, der Garconwohnungen galt.
Aver auf diese galanten Zeiten folgt bald die natürliche
Reaktion, die Bitterkeit des „Freiwild“ des „Vermächtnis“
die Satire des „Lieutenant Gustl“, den jeder einmal kennen
gelernt hat. Allmählich taucht dann in Schnitzlers Dichtungen
das wirklich ernste Wien auf. Die Berta Garlan ist die erste
der modernen Wiener Wirklichkeit nachgezeichnete Frauen¬
gestalt, während die Margarete in „Literatur“ ein ironisch
gesehener Typus ist. Die Menschen des „Einsamen Weg“ ##
sind eine Kreuzung von Ibsentum und Wienertum: d
um zwanzig Jahre älter und bitterer gewordene Anatol¬
Generation. Nach und nach bilden die Gestalten Schnitzlers
eine Art besonderer geschlossener Wiener Gesellschaft, und
im „Weg ins Freie", im „Weiten Land“ glaubt man oft
die Vorbilder zu erkennen.
Schnitzler hat auch einiges geschrieben, was i
historischer Zeit spielt, in Bologna und Paris. Aber sein
eigentliches Gebiet ist doch das heutige Wien. Er selbst
entstammt ja zwei alten Wiener Familien. Sowohl vom
Vater her, dem berühmten Laryngologen Johann
Schnitzler, wie von der Mutter, deren Vater ebenfalls ein
angesehener Wiener Arzt war. Und die Eindrücke dieser
Jugend werden namentlich in den allerersten Büchern und
Stücken lebendig. Bunte Eindrücke aus der Theatersphäre,
denn sein Großvater war ja Arzt des Carl=Theaters und
mag dem Enkel manches erzählt haben, Dann ernstere Er¬
fahrungen aus der Welt des Allgemeinen Krankenhauses,
wo Schnitzler als Student und Sekundararzt manches
Jahr verbracht hat. Und auch die Beobachtungen, die er
in der Wiener Gesellschaft gemacht hat, kehren alle wieder,
in einer veränderten durchgeistigten Gestalt, Jawohl, aus
jeder Zeile, die Schnitzler geschrieben hat, erkennt man
den mit seinem ganzen Fühlen und Sinnen nach Wien
Zuständigen. Das schablonenhafte, gerührte und fidele
Duliäh= und Heurigen=Wienertum wirb man freilich in den
Werken dieses Wiener Dichters vergebens suchen. Es ist
mehr ein Wienertum der inneren intellektuellen Bezirke.
Seine Menschen sprechen selten im Dialekt, sondern in
einem legeren Hochdeutsch von wienerischer Diktion. Es
sind moderne Wiener von ganz besonderer Art. Diese
Männer und Frauen sind alle ein wenig melancholisch
und grüblerisch angehaucht, haben komplizierte Gemüter,
empfindliche und überreizte Nerven und quälen sich gern
mit spitzfindigen seelischen Konflikten, und namentlich die
Frauengestalten des reifen Schnitzler sind wunderliche Ge¬
schöpse, keine Spur mehr vom harmlosen süßen Mädel,
Aber wer genauer hinsieht, erkennt doch die geheimen
Fäden, die von der Christine zur Genia, vom Anatol
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