VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 134

enenneenenen
Man ist erstaunt, verblüfft, irritiert: Die Jugendser seine Klugheiten vollbringen. Man ist nicht Mensch,
der achtziger Jahre wird alt. Wahr und wahrhaftig,
man wird es erst. Wie jeder es wird, das ist seine
sie wird alt und ehrwürdig. Sie feiert Jubiläum.
Kunst. Otto Ernst hat sein Lieblingskind: Asmus
Das ist immer ein Zeichen von Stabilität. Sie
Semper. Gewiß, es ist immer noch viel zu viel
schaut zurück. Das ist immer ein Symbol von Er¬
Gemüt in dem Jungen. Viel zu viel „Instinkt“. Die
mattung.
Moral des Kopfes, wie der große Friedrich sie nennt,
Die Kämpfer von einst reinigen die Waffen. Das
fehlt. Aber die kleinen Konflikte und die großen
Heiterkeiten der Kindesseele hat Otto Ernst gefunden
Im Grunde genommen sind es nur zwei Kämpfer.
und aufgedeckt. Und was von Max Dreyers
Ein offener, wilder, loser Draufgänger: Johannes
Kunst bleiben wird —
ist die Seele der „Siebzehn¬
Schlaf.
jährigen“, oder besser die Seelen. Die Seelen mit
Und einer, der zwar im Vordergrunde des Gefechts
Frühlingsfieber im Blut. Die da lachen, wenn sie
stand, dessen Kunst umstritten wurde, der aber selbst
weinen müssen. Die da weinen, wenn ihnen große
Freude begegnet.
mehr auf dem Aussichtshügel stand und ins Gewimmel
Die Halbkinder, die Liebe zu
Menschen macht. Die Schmetterlinge, die trunken
hineinschaute. Für ihn wurde gekämpft, um ihn. Er
werden vom vielen Licht ....
selbst blieb in kühler Reserve.
Johannes Schlaf, der redlichste und ehrlichste
Ludwig Fulda ist einer von den Fünfzigern, der
Wortführer des Naturalismus, sah als erste und
am wenigsten ins „Programm“ hineinpaßt. Er stand
tiefste Aufgabe der Kunst und des Schaffens:
zuviel im Vordergrund der Gesellschaft. Man möchte
„Etwas Ganzes, Rundes herauszuschaffen aus
sagen: er hat zuviel Vereine geleitet. Er war immer
einem gesunden, kräftigen Empfinden, aus einer um¬
da. Er hat oft charaktervoll protestiert. Er hat viel
fassenden, sicheren Stimmung heraus gestalten, die
geschrieben. Er hat viel und sehr schöne Reden ge¬
einen trägt von Beginn bis zu Ende. Die Welt
halten. Eine große Persönlichkeit war er nicht, aber
wiederzugeben, wie sie Empfindung und treibendes
eine vielseitige und gewinnende. Er hat auch den
quellendes Leben in einem geworden, ohne zu deuteln
„Dummkopf“ geschrieben, etwas, das sich wie die
und zu urteilen, zu verdammen und zu preisen.
Tragödie einer Zeit ausnahm. Allzutief gings ihm
Als ob Schlaf Gerhart Hauptmanns Kunstschaffen
nicht. Er hat mit Geist und Geschick alle Fragen auf¬
charakterisieren wollte, hört sich sein Programm¬
gefaßt, die in der Luft lagen. Aber er hat es immer
wort an:
fast vergessen, daß die Luft mitgenommen werden muß
„Kein kluges, kaltes Beobachten: mit seinem
mit dem Problem. „Die Sklavin“, die moderne
Frau hat ihn interessiert. Aber ihre Umgebung, ihre
Empfinden aufgehen im Leben, es selbst werden.
Existenzbedingungen, ihre gewordene Art, ihre inneren
Farbe sein, Ton, Licht, eigener und fremder Schmerz,
Keime hat er nicht mit der Wurzel gefaßt.
eigene und fremde Lust, jede Leidenschaft, wie sie in
schlichter, natürlicher Kraft sich äußert.“ So ist Gerhart
Diese Zeilen sollen keine Wertung sein. Sonst
Hauptmanns Kunst geworden:
müßte man konstatieren, wo die Dichter angefangen
„Ganz selbst und doch seiner selbst entledigt“, wie
haben und wo sie jetzt stehen. Gerhart Hauptmann
Friedrich Nietzsche das Pathos der antimoralischen
schreibt Romane für Tageszeitungen
Johannes
Schlaf ist religiös
— nein, diese Betrachtung sollte
Moral bezeichnet — das Pathos, das dem Viertel¬
jahrhundert dieser Fünfziger das Gepräge gab.
nur eine knappe Entwickelung dieser sechs Funfziger
Hat ein anderer Führer des Naturalismus das
geben. Möge das sechste Jahrzehnt tiefere und
Wort gesprochen: „Subjektivität ist Wahrheit“ (Carl
stärkere Kunst gebären.
Bleibtreu), so hat die Entwickelung der modernen
Literatur das Wort umgemodelt, umgedreht: Wahrheit
ist Subjektivität. Oder auch: Wahrheit ist Wirklichkeit.
Keinen Finger breit von der Wirklichkeit abweichen,
nichts schön färben, nichts heucheln, was die Sonne
nicht sieht — und doch wahr bleiben, doch Kunst
schaffen, das ist es, was uns der Naturalismus lehrte.
Kunst ist nicht ein Idyll, wo gute Kinder mit ihren
Gefühlen tändeln und schlechte die Gefühlchen mi߬
achten; Kunst nicht ein Spiel hinter verwachsenen
Hecken, wo Liebe schmollt und Stolz heuchelt und
Hoheit markiert. — Kunst ist leidenschaftliches Leben.
Wie Gerhard Hauptmann sagt: Läuternde Erschütte¬
rung.
Durch Friedrich Nietzsche haben es die Jungen ge¬
lernt, daß Liebe kein träger, verspielter Paradies¬
Zustand ist, kein Paradies, das böse Tanten und harte
Mütter mit dem Schwert in Händen bewachen —
sondern daß Liebe ein Kampf der Geschlechter und des
Geschlechts ist.
Man kann ruhig sagen: Der Writte, der ahnen¬
stolze Vater, die verbohrte Mutter — sie wurden aus¬
zu kämpfen, fertig zu werden hatten... so oder so...
lachend oder weinend ... lebend oder tot. Die starke
Andacht des Lebens ist an Stelle der matten, lenden¬
lahmen Sehnsucht getreten.
Gewiß, sie verliebten sich in das Leben. Hoffmanns¬
thal sagt einmal von Peter Altenberg: „Er ist allzu
verliebt in das schöne Leben“ und will damit die
Ueberschätzung des Lebens, das sich in dieser Epoche
breit macht, charakterisien. Aber Hoffmannsthal ist
bereits über den Naturalismus hinausgewachsen.
Die Naturalisten wußten von Nietzsches Definition
der Liebe: Schätzung und Ueberschätzung von etwas,
dessen Besitz man begehrt. . oder fühlten sie voraus.
Das Allzuverliebtsein in das schöne Leben kenn¬
zeichnet das Lebenswerk von Arthur Schnitzlers,
dem Landsmann Peter Altenbergs. Schnitzlers
Menschen sind allzuverliebt. Sie sind Kinder, die zu
Grunde gehen oder Oberwasser gewinnen, wie in
„Liebelei": sie werden melancholische Zyniker wie
„Anatol“. Sie werden spielerisch und versonnen,
müde und vergrübelt: aber sie bleiben verliebt.
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Worin? In „das weite Land der Seele“. Sie sind
entzückt von den vielen Formen des Lebens, von den
vielen Möglichkeiten der Liebe, von den tausend
Sie
Farben, die das Frühlingsfieber hervorzaubert.
lächeln leise über die Sentimentalitäten des ewig
wechselnden Gefühls, sie werden wohl auch gerührt,
weil sie selbst mitspielen in der Komödie, werden wohl
gerührt von der inneren Unrast, die sie immer aufs
neue in die buntbewimpelte Arena des Lebens
treibt — aber sie wissen genau und klar: „Wir lügen
alle — wer es weiß, ist klug.
Der Naturalismus hat die Wunder des Nächst¬
liegenden gepredigt. Wir sollen nicht den Alltag hin¬
nehmen, wie er kommt, sondern ihn würdigen, ihn