Anschein hatte, als ob sich die Wiener Wirtlichkeit nach
der Jungwiener Literatur richten würde. Oskar Wilde
hat einmal in seiner paradoxen Weise gesagt, daß die
englische Natur die Präraffaeliten nachahme. So haben
auch damals manche Wiener Gesellschaftskreise Artur
seiner Dialoge, seiner
Schnitzler kopiert und im Ton
verliebt, zärtlich und
Novellen geplaudert, geflirtet,
melancholisch getan. Das war die Zeit, in der Schnitzler
sozusagen als Dichter des amourösen Wien, der
Separees, der Rendezvous, der Garconwohnungen galt.
Aber auf diese galanten Zeiten folgt bald die natürliche
Reaktion, die Bitterkeit des „Freiwild“, des „Vermächtnis“,
die Satire des „Lieutenant Gustl“ den jeder einmal kennen
gelernt hat. Allmählich taucht dann in Schnitzlers Dichtungen
das wirklich ernste Wien auf. Die Berta Garlan ist die erste
11
der modernen Wiener Wirklichkeit nachgezeichnete Frauen¬
gestalt, während die Margarete in „Literatur“ ein ironisch
gesehener Typus ist. Die Menschen des „Einsamen Weg“
sind eine Kreuzung von Ibsentum und Wienertum: die
u
um zwanzig Jahre älter und bitterer gewordene Anatol¬
L
Generation. Nach und nach bilden die Gestalten Schnitzlers
K
eine Art besonderer geschlossener Wiener Gesellschaft, und
im „Weg ins Freie“, im „Weiten Land“ glaubt man oft n
E
die Vorbilder zu erkennen.
Schnitzler hat auch einiges geschrieben, was in v.
historischer Zeit spielt, in Bologna und Paris. Aber sein
9#
eigentliches Gebiet ist doch das heutige Wien. Er selbst
entstammt ja zwei alten Wiener Familien. Sowohl vom
2
Vater her, dem berühmten Laryngologen Johann
Schnitzler, wie von der Mutter, deren Vater ebenfalls ein
u.
angesehener Wiener Arzt war. Und die Eindrücke dieser
Jugend werden namentlich in den allerersten Büchern und
Stücken lebendig. Bunte Eindrücke aus der Theatersphäre,
w
denn sein Großvater war ja Arzt des Carl=Theaters und
ji
mag dem Enkel manches erzählt haben, Dann ernstere Er¬
fahrungen aus der Welt des Allgemeinen Krankenhauses,
P
wo Schnitzler als Student und Sekundararzt manches
L
Jahr verbracht hat. Und auch die Beobachtungen, die er
d0
in der Wiener Gesellschaft gemacht hat, kehren alle wieder,
in einer veränderten durchgeistigten Gestalt. Jawohl, aus
jeder Zeile, die Schnitzter geschrieben hat, erkennt man.
den mit seinem ganzen Fühlen und Sinnen nach Wien
Zuständigen. Das schablonenhafte, gerührte und fidele
Duljäh= und Heurigen=Wienertum wird man freilich in den
Werken dieses Wiener Dichters vergebens suchen. Es ist
mehr ein Wienertum der inneren intellektuellen Bezirke.
Seine Menschen sprechen selten im Dialekt, sondern in
e
einem legeren Hochdeutsch von wienerischer Diktion. Es
sind moderne Wiener von ganz besonderer Art. Diese
1
Männer und Frauen sind alle ein wenig melancholisch
und grüblerisch angehaucht, haben komplizierte Gemüter,
empfindliche und überreizte Nerven und quälen sich gern
mit spitzfindigen seelischen Konflikten, und namentlich die
1
Frauengestalten des reifen Schnitzler sind wunderliche Ge¬
schöpfe, keine Spur mehr vom harmlosen süßen Mädel.
Aber wer genauer hinsieht, erkennt doch die geheimen
—.
Fäden, die von der Christine zur Genia, vom Anatol
zum Friedrich Hofreiter führen. Und daß die Schnitzler¬
schen Figuren sich so merkwürdig verändert haben, daran
ist vielleicht die Wandlung schuld, die die Stadt in diesen,
ewanzig Jahren erfahren hat. Es leben jetzt ganz andere
Menschen in Wien als zur Zeit des Anatol. Der strengere
Zug der späteren Werke Schnitzlers geht auch durch unser
wirkliches Leben. Wir haben absolut keine Zeit mehr, zu
tändeln und Seelenkomödie zu spielen, wie anno 1890.
Für den Kulturhistoriker wird es einmal ganz interessant
sein, sich aus den Werken Schnitzlers die Veränderung des
Wieners und der Wiener Gesellschaft herauszulesen, und
er wird vielleicht finden, daß die Gesellschaft und ihr
Dichter eine beinahe identische Entwicklung durchgemacht
haben.
Es ist also wirklich nicht länger als zwanzig Jahre
her, daß das junge Wien jung war? Heute mutet es
schon beinahe historisch an, wie eine Art Romantik. Das
Merkwürdigste ist aber, daß kein jüngeres, sondern ein
ganz anderes Wien nachgewachsen ist. Ein neues, un¬
sentimentales Geschlecht von jungen Leuten, die ohne
Rührung auf den Kahlenberg gehen, ohne seelische
Zweifel soupieren, die sich die Welt und das Leben
inbekümmert schmecken lassen. Sie haben natürlich recht,
iese nüchternen und abgehärteten jungen Leute. Sie
eben ohne Zweifel vernünftiger und gesünder als der
elige Anatol, aber ein so lieber und unvergeßlicher Kerl
die er dürfte kaum unter ihnen zu finden sein.
I„fd.
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die
der Jungwiener Literatur richten würde. Oskar Wilde
hat einmal in seiner paradoxen Weise gesagt, daß die
englische Natur die Präraffaeliten nachahme. So haben
auch damals manche Wiener Gesellschaftskreise Artur
seiner Dialoge, seiner
Schnitzler kopiert und im Ton
verliebt, zärtlich und
Novellen geplaudert, geflirtet,
melancholisch getan. Das war die Zeit, in der Schnitzler
sozusagen als Dichter des amourösen Wien, der
Separees, der Rendezvous, der Garconwohnungen galt.
Aber auf diese galanten Zeiten folgt bald die natürliche
Reaktion, die Bitterkeit des „Freiwild“, des „Vermächtnis“,
die Satire des „Lieutenant Gustl“ den jeder einmal kennen
gelernt hat. Allmählich taucht dann in Schnitzlers Dichtungen
das wirklich ernste Wien auf. Die Berta Garlan ist die erste
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der modernen Wiener Wirklichkeit nachgezeichnete Frauen¬
gestalt, während die Margarete in „Literatur“ ein ironisch
gesehener Typus ist. Die Menschen des „Einsamen Weg“
sind eine Kreuzung von Ibsentum und Wienertum: die
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um zwanzig Jahre älter und bitterer gewordene Anatol¬
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eine Art besonderer geschlossener Wiener Gesellschaft, und
im „Weg ins Freie“, im „Weiten Land“ glaubt man oft n
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Schnitzler hat auch einiges geschrieben, was in v.
historischer Zeit spielt, in Bologna und Paris. Aber sein
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eigentliches Gebiet ist doch das heutige Wien. Er selbst
entstammt ja zwei alten Wiener Familien. Sowohl vom
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Vater her, dem berühmten Laryngologen Johann
Schnitzler, wie von der Mutter, deren Vater ebenfalls ein
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angesehener Wiener Arzt war. Und die Eindrücke dieser
Jugend werden namentlich in den allerersten Büchern und
Stücken lebendig. Bunte Eindrücke aus der Theatersphäre,
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denn sein Großvater war ja Arzt des Carl=Theaters und
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mag dem Enkel manches erzählt haben, Dann ernstere Er¬
fahrungen aus der Welt des Allgemeinen Krankenhauses,
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Jahr verbracht hat. Und auch die Beobachtungen, die er
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in der Wiener Gesellschaft gemacht hat, kehren alle wieder,
in einer veränderten durchgeistigten Gestalt. Jawohl, aus
jeder Zeile, die Schnitzter geschrieben hat, erkennt man.
den mit seinem ganzen Fühlen und Sinnen nach Wien
Zuständigen. Das schablonenhafte, gerührte und fidele
Duljäh= und Heurigen=Wienertum wird man freilich in den
Werken dieses Wiener Dichters vergebens suchen. Es ist
mehr ein Wienertum der inneren intellektuellen Bezirke.
Seine Menschen sprechen selten im Dialekt, sondern in
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einem legeren Hochdeutsch von wienerischer Diktion. Es
sind moderne Wiener von ganz besonderer Art. Diese
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Männer und Frauen sind alle ein wenig melancholisch
und grüblerisch angehaucht, haben komplizierte Gemüter,
empfindliche und überreizte Nerven und quälen sich gern
mit spitzfindigen seelischen Konflikten, und namentlich die
1
Frauengestalten des reifen Schnitzler sind wunderliche Ge¬
schöpfe, keine Spur mehr vom harmlosen süßen Mädel.
Aber wer genauer hinsieht, erkennt doch die geheimen
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Fäden, die von der Christine zur Genia, vom Anatol
zum Friedrich Hofreiter führen. Und daß die Schnitzler¬
schen Figuren sich so merkwürdig verändert haben, daran
ist vielleicht die Wandlung schuld, die die Stadt in diesen,
ewanzig Jahren erfahren hat. Es leben jetzt ganz andere
Menschen in Wien als zur Zeit des Anatol. Der strengere
Zug der späteren Werke Schnitzlers geht auch durch unser
wirkliches Leben. Wir haben absolut keine Zeit mehr, zu
tändeln und Seelenkomödie zu spielen, wie anno 1890.
Für den Kulturhistoriker wird es einmal ganz interessant
sein, sich aus den Werken Schnitzlers die Veränderung des
Wieners und der Wiener Gesellschaft herauszulesen, und
er wird vielleicht finden, daß die Gesellschaft und ihr
Dichter eine beinahe identische Entwicklung durchgemacht
haben.
Es ist also wirklich nicht länger als zwanzig Jahre
her, daß das junge Wien jung war? Heute mutet es
schon beinahe historisch an, wie eine Art Romantik. Das
Merkwürdigste ist aber, daß kein jüngeres, sondern ein
ganz anderes Wien nachgewachsen ist. Ein neues, un¬
sentimentales Geschlecht von jungen Leuten, die ohne
Rührung auf den Kahlenberg gehen, ohne seelische
Zweifel soupieren, die sich die Welt und das Leben
inbekümmert schmecken lassen. Sie haben natürlich recht,
iese nüchternen und abgehärteten jungen Leute. Sie
eben ohne Zweifel vernünftiger und gesünder als der
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