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goth Birthday
Der Dichter als Führer.
Noch ein Beitrag zur Schnitzler=Feier.
Von Leffing wurde jene große Klärungsarbeit verrichtet,
die alles lehrhaft Zweckhafte als unkünstlerisch aus den Gren¬
hen der Kunst verstieß. Aber trotz seiner und trotz der weiter¬
gehenden l’art pour l’art=Doktrin sderen erste Fassung man
[Shéophile Gautier zuschreibt), trotz Oskar Wildes kühler An¬
age: „All art is quite useless“ — trotzdem und nichtsdesto¬
weniger: gerade höchste Kunst, zumal die literarische, übt ihre
beispielgebeude Wirkung ins Leben, heute wie je. Frei¬
lich, wir sträuben uns dagegen, diese Wirkung eine bloß di¬
haktische zu nennen, viel zu ärmlich dünkt uns solches Prä¬
dikat. Großartiger, obschon nicht eben klar, ist die progres¬
sive Universalpoesie, mit welcher die Romantik die Welt zu
beglücken gedachte. Das Werther=Fieber das in ihren Kind¬
heitstagen Deutschland durchschüttelt hatte, mag an dem Plan
der Welteroberung durch die dichterische Imagination nicht
unbeteiligt gewesen sein.
Man kennt die lustig übertreibenden rie, mit denen
sich Goethe gegen das epidemisch gewordene Werther=Unheil
berwahrt hat. Sie gehören auf dasselbe Blatt, auf welches
Thomas Mann neulich schrieb: „Wenn mein Treiben und
Schreiben in der äußeren Menschenwelt bildende, führende,
helfende Wirkungen gezeitigt hhat, sso ist das rin Azidens,
das mich in demselben Grade überrascht, wie es mich beglückt.“
Das Selbstzweckprinzip hat einzig und allein für den Schöpfer
Geltung, das Geschaffene entzieht sich ihm. Entzieht sich ihm
so sehr, daß eben der Autor, der die „ganz nutzlose Kunst“
proklamierte, gleichzeitig behaupten durfte, das Leben ahme die
lkunst nach. Jedenfalls, der Dichter wird zum Führer ohne
ein Dazutun, man darf schon sagen malgré lui.
Wie wenige gleichwohl erfahren solche Berufung und
angewollte Erhöhung! Blicken wir in unsere Zeit, lassen wir
die Beiträger zur schönen Literatur des letzten Menschenalters
Revue passieren, so bieret sich uns in deutschen Landen kaum
ein Halbdutzend Namen an, die im erwähnten Sinn zu klassi¬
sizieren wären. Unbestritten aber und einleuchtend steht der
Name Artur Schnitzler in dieser kleinen Reihe. Wir grüßen
Ihn; grüßen ihn als den, der uns immer schon schien: als
rin Asthet mit Gewissen.
Denn nicht bloß zur Umschrift seines für sich bestehen¬
sen geistigen Bildes angt diese Formel sondern auch des
Weltbildes, das der Führer voranträgt. Woher wir die For¬
wel abnsehmen? Vielleicht aus der kühnen Selbstinventur des
Herrn von Sala („Der einsame Weg“); er ist der Schnitzler¬
Mensch katexochen. Diese Schnitzler=Menschen betrügen oft
ihre Mitmenschen, niemals sich selbst. Sie mögen Lebens¬
lügen in Umlauf bringen um des holden Scheines und ihres
größeren Genusses willen: an sich selbst jedoch erfüllen sie
immer die ideale Forderung der Wahrhaftigkeit. Und ehe sie
aus ihrer Not eine Tugend machen, bekennen sie die Not ein.
Aber wenn auch in dem zitierten Stück sich die ange¬
schriebene Formel besonders faßlich markiert, so bleibt ein
Stück doch stets nur Stück eines Ganzen, des Gesamtwerkes,
des Oenyre, wie man modisch sagt, und auf diesem Ganzen erst
ruhi die Führerwirksamkeit des Dichters. Denn derlei Wirk¬
samkeit ist erst aus der Fülle denkbar, erst aus einer Fülle
von Worten, Gestalten Sitnationen, Stimmungen bildet sich
das feelische Agens. Um Seelisches gehi es ja hier, um ge¬
fühlsbeionte Weisheit, nicht um einfach intelligibles Wissen.
Der Dichter als Führer — nicht der Schriftsteller mittlerer
wlasse kann es sein, der Moraltendenzen verfolgt und Moral¬
kezepte verabreicht, etwa dem gehörnten Ehemann aurät:
„Tucla!“ Noch würden wir einem Antor schon um deswillen
Führereigenschaft zubilligen, weil ein von ihm kreierter Typus
—
# —
ckel vervielfältigk, den das schmutzige Gemächte dieser Zeit
aussendet.
Beispiele für die polemische, die verneinende Seite
der dichterischen Führermission wären dies. Nun aber der
anderen zu gedenken, die uns schöpferisch auflbauend praktische
Moral mitteilt, so seien die folgenden Kernsätze in Erinnerung
gebracht und die aus ihnen gewachsenen Dichtungen:
Der junge Medardus — „Es gibt kein Glück, der Wille
ist alles“:
Das weite Land — „So vieles hat zugleich Raum in
uns —! Liebe und Trug ... Treue und Treulösigkeit
Anbetung für die eine und Verlangen nach einer anderen oder
nach mehreren. Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaf¬
sen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas
Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos“;
Die Schwestern — „Treue ist Wiederkehr“:
und schließlich, aber nicht zuletzt, die krönende Sentenz, nicht
bloß den „Schleier der Beatrice“ trönend:
Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit,
Und noch der nächste Augenblick ist weit
Ein Wort von enormer Spannweite, das oberste, viel¬
sagendste Schnitzler=Wort, gleichwie „Der Ruf des Lebens“
des Dichters vielsagendste Aufschrift ist. Sein Ruf des Le¬
bens war immer auch ein Ruf ins Leben. Unermeßlich viel
Lebensgefühl ist der Generation, zu der wir uns bekennen
(also der vorletzten, nicht der letzten), aus Artur Schnitzers
Werken zugewachsen.
Lebensgefühl unter Gewissenskontrolle! Vor individua¬
listischer Ethik so ant bestenend wie vor sozialer. Gewiß, den
Bau der Welt dieses Dichters hält nicht der Hunger und die
Liebe zusammen, — sondern der Tod und die Liebe. Aber
so wahr nun der Tod nicht die Angelegenheit einer bevor¬
rechteten Klasse ist, so wahr ist die Liebe der Weg des Ichss
zur Welt; die erlöste Einsamkeit bleibt bei der Zweisamkeit
nicht stehen. Liebe, die Geschlechtsliebe, erweckt das soziale
Denken, das Und zwischen Tisch und Bett ist eine soziale
Klammer diesseits und jenseits der Legitimität, urnotwendig!
Liebe ist umstürzlerischer als Haß.
Schon „Liebelei", meinen wir — mit der unendlich rüh¬
renden Kontraftierung der Geliebten, für die „man“ stirbt
und der anderen, für die „man“ nicht stirbt — war eine soziale
Dichtung. Und der „Reigen“ der in so hlendend geistreicher
Weise den absoluten Eros die gesellschaftliche Relativität auf¬
hoben läßt, war es erst recht.
Diese Beionung des Sozialen bei Schnitzler erübrigt j#
eigentlich, wenn man (wie wir hoffen) sich mit unserer Formel#
„Asthet mit Gewissen“ einverstanden fand. Denn was heißt
Gewissen haben anders, als das Ich auf das Du der Weit
abstimmen? Gewissen fordert, die letzten Masken fallen zu
lassen vor der Welt, die Seele nackend zu zeigen. Welche
Größe des Bekenntnisses, das Friedrich Hofreiter sim „Weiten;
Land“) vor seiner Geliebten ablegt: „Wenn man Zeit hat und
in der Lauue ist, haut man Fabriken, erober: Länder, schreibt
aber glaube mir, das ist
Symphonien, wird Millionär
doch alles nur Nebensache. Die Hauntsache — seid ihr! —
ihr — ihr!...
Wenn in den Theaterstücken und in den Erzählungen
Artur Schnitzlers mehr Duelle geschlagen werden, als sich in
den letzten 30 Jahren rundherum zugetragen haben, so in¬
diziert auch dies die Tieflotung seines Gewissens. Der Sinn
des Duells — von dem blasphemischen Unfug des Ehren¬
koder entkleidet — ist: für eine Überzeugung, für eine Wahrheit
den Tod auf sich zu nehmen. Man hat Gewissen nur um den
Preis, daß man zu sterben bereit sei. Aber es stirbt sich
schwer, so schwer im Liebesverlangen nach den Masken und
goth Birthday
Der Dichter als Führer.
Noch ein Beitrag zur Schnitzler=Feier.
Von Leffing wurde jene große Klärungsarbeit verrichtet,
die alles lehrhaft Zweckhafte als unkünstlerisch aus den Gren¬
hen der Kunst verstieß. Aber trotz seiner und trotz der weiter¬
gehenden l’art pour l’art=Doktrin sderen erste Fassung man
[Shéophile Gautier zuschreibt), trotz Oskar Wildes kühler An¬
age: „All art is quite useless“ — trotzdem und nichtsdesto¬
weniger: gerade höchste Kunst, zumal die literarische, übt ihre
beispielgebeude Wirkung ins Leben, heute wie je. Frei¬
lich, wir sträuben uns dagegen, diese Wirkung eine bloß di¬
haktische zu nennen, viel zu ärmlich dünkt uns solches Prä¬
dikat. Großartiger, obschon nicht eben klar, ist die progres¬
sive Universalpoesie, mit welcher die Romantik die Welt zu
beglücken gedachte. Das Werther=Fieber das in ihren Kind¬
heitstagen Deutschland durchschüttelt hatte, mag an dem Plan
der Welteroberung durch die dichterische Imagination nicht
unbeteiligt gewesen sein.
Man kennt die lustig übertreibenden rie, mit denen
sich Goethe gegen das epidemisch gewordene Werther=Unheil
berwahrt hat. Sie gehören auf dasselbe Blatt, auf welches
Thomas Mann neulich schrieb: „Wenn mein Treiben und
Schreiben in der äußeren Menschenwelt bildende, führende,
helfende Wirkungen gezeitigt hhat, sso ist das rin Azidens,
das mich in demselben Grade überrascht, wie es mich beglückt.“
Das Selbstzweckprinzip hat einzig und allein für den Schöpfer
Geltung, das Geschaffene entzieht sich ihm. Entzieht sich ihm
so sehr, daß eben der Autor, der die „ganz nutzlose Kunst“
proklamierte, gleichzeitig behaupten durfte, das Leben ahme die
lkunst nach. Jedenfalls, der Dichter wird zum Führer ohne
ein Dazutun, man darf schon sagen malgré lui.
Wie wenige gleichwohl erfahren solche Berufung und
angewollte Erhöhung! Blicken wir in unsere Zeit, lassen wir
die Beiträger zur schönen Literatur des letzten Menschenalters
Revue passieren, so bieret sich uns in deutschen Landen kaum
ein Halbdutzend Namen an, die im erwähnten Sinn zu klassi¬
sizieren wären. Unbestritten aber und einleuchtend steht der
Name Artur Schnitzler in dieser kleinen Reihe. Wir grüßen
Ihn; grüßen ihn als den, der uns immer schon schien: als
rin Asthet mit Gewissen.
Denn nicht bloß zur Umschrift seines für sich bestehen¬
sen geistigen Bildes angt diese Formel sondern auch des
Weltbildes, das der Führer voranträgt. Woher wir die For¬
wel abnsehmen? Vielleicht aus der kühnen Selbstinventur des
Herrn von Sala („Der einsame Weg“); er ist der Schnitzler¬
Mensch katexochen. Diese Schnitzler=Menschen betrügen oft
ihre Mitmenschen, niemals sich selbst. Sie mögen Lebens¬
lügen in Umlauf bringen um des holden Scheines und ihres
größeren Genusses willen: an sich selbst jedoch erfüllen sie
immer die ideale Forderung der Wahrhaftigkeit. Und ehe sie
aus ihrer Not eine Tugend machen, bekennen sie die Not ein.
Aber wenn auch in dem zitierten Stück sich die ange¬
schriebene Formel besonders faßlich markiert, so bleibt ein
Stück doch stets nur Stück eines Ganzen, des Gesamtwerkes,
des Oenyre, wie man modisch sagt, und auf diesem Ganzen erst
ruhi die Führerwirksamkeit des Dichters. Denn derlei Wirk¬
samkeit ist erst aus der Fülle denkbar, erst aus einer Fülle
von Worten, Gestalten Sitnationen, Stimmungen bildet sich
das feelische Agens. Um Seelisches gehi es ja hier, um ge¬
fühlsbeionte Weisheit, nicht um einfach intelligibles Wissen.
Der Dichter als Führer — nicht der Schriftsteller mittlerer
wlasse kann es sein, der Moraltendenzen verfolgt und Moral¬
kezepte verabreicht, etwa dem gehörnten Ehemann aurät:
„Tucla!“ Noch würden wir einem Antor schon um deswillen
Führereigenschaft zubilligen, weil ein von ihm kreierter Typus
—
# —
ckel vervielfältigk, den das schmutzige Gemächte dieser Zeit
aussendet.
Beispiele für die polemische, die verneinende Seite
der dichterischen Führermission wären dies. Nun aber der
anderen zu gedenken, die uns schöpferisch auflbauend praktische
Moral mitteilt, so seien die folgenden Kernsätze in Erinnerung
gebracht und die aus ihnen gewachsenen Dichtungen:
Der junge Medardus — „Es gibt kein Glück, der Wille
ist alles“:
Das weite Land — „So vieles hat zugleich Raum in
uns —! Liebe und Trug ... Treue und Treulösigkeit
Anbetung für die eine und Verlangen nach einer anderen oder
nach mehreren. Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaf¬
sen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas
Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos“;
Die Schwestern — „Treue ist Wiederkehr“:
und schließlich, aber nicht zuletzt, die krönende Sentenz, nicht
bloß den „Schleier der Beatrice“ trönend:
Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit,
Und noch der nächste Augenblick ist weit
Ein Wort von enormer Spannweite, das oberste, viel¬
sagendste Schnitzler=Wort, gleichwie „Der Ruf des Lebens“
des Dichters vielsagendste Aufschrift ist. Sein Ruf des Le¬
bens war immer auch ein Ruf ins Leben. Unermeßlich viel
Lebensgefühl ist der Generation, zu der wir uns bekennen
(also der vorletzten, nicht der letzten), aus Artur Schnitzers
Werken zugewachsen.
Lebensgefühl unter Gewissenskontrolle! Vor individua¬
listischer Ethik so ant bestenend wie vor sozialer. Gewiß, den
Bau der Welt dieses Dichters hält nicht der Hunger und die
Liebe zusammen, — sondern der Tod und die Liebe. Aber
so wahr nun der Tod nicht die Angelegenheit einer bevor¬
rechteten Klasse ist, so wahr ist die Liebe der Weg des Ichss
zur Welt; die erlöste Einsamkeit bleibt bei der Zweisamkeit
nicht stehen. Liebe, die Geschlechtsliebe, erweckt das soziale
Denken, das Und zwischen Tisch und Bett ist eine soziale
Klammer diesseits und jenseits der Legitimität, urnotwendig!
Liebe ist umstürzlerischer als Haß.
Schon „Liebelei", meinen wir — mit der unendlich rüh¬
renden Kontraftierung der Geliebten, für die „man“ stirbt
und der anderen, für die „man“ nicht stirbt — war eine soziale
Dichtung. Und der „Reigen“ der in so hlendend geistreicher
Weise den absoluten Eros die gesellschaftliche Relativität auf¬
hoben läßt, war es erst recht.
Diese Beionung des Sozialen bei Schnitzler erübrigt j#
eigentlich, wenn man (wie wir hoffen) sich mit unserer Formel#
„Asthet mit Gewissen“ einverstanden fand. Denn was heißt
Gewissen haben anders, als das Ich auf das Du der Weit
abstimmen? Gewissen fordert, die letzten Masken fallen zu
lassen vor der Welt, die Seele nackend zu zeigen. Welche
Größe des Bekenntnisses, das Friedrich Hofreiter sim „Weiten;
Land“) vor seiner Geliebten ablegt: „Wenn man Zeit hat und
in der Lauue ist, haut man Fabriken, erober: Länder, schreibt
aber glaube mir, das ist
Symphonien, wird Millionär
doch alles nur Nebensache. Die Hauntsache — seid ihr! —
ihr — ihr!...
Wenn in den Theaterstücken und in den Erzählungen
Artur Schnitzlers mehr Duelle geschlagen werden, als sich in
den letzten 30 Jahren rundherum zugetragen haben, so in¬
diziert auch dies die Tieflotung seines Gewissens. Der Sinn
des Duells — von dem blasphemischen Unfug des Ehren¬
koder entkleidet — ist: für eine Überzeugung, für eine Wahrheit
den Tod auf sich zu nehmen. Man hat Gewissen nur um den
Preis, daß man zu sterben bereit sei. Aber es stirbt sich
schwer, so schwer im Liebesverlangen nach den Masken und