VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 196

Nach dem Ausland Zu¬
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schlag der Postgebühren.
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Postscheckrechnung III 414
Redaktion: Teleph. 44.40,
Breitenrainstr. 07. Admi¬
Organ für fortschrittliche Politik und Volkswirtschaft
nistration: Teleph. 44.40.
(Berner Intelligenzblatt 89. Jahrgang)
Verlag: „Hallwag" A.=G.,
Bern.
Mit illustrierter Sonntagsbeilage „Das Blatt für Alle“
Einzelpreis 15 Rp.


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Liebelei
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Ein Wiener Brief von Heinrich York Steiner.
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Es war einmal ein Arzt, der eine neuartige
Disziplin popularisierte, die Laryngologie. Auch
seine beiden Söhne folgten dem Vater im Berufe.
Einer von ihnen schrieb nebstbei kleine Skizzen,
deren Grazie französisch anmutete. Je nun, in
Wien malen, musizieren oder schreiben gar viele
Mediziner, die Atmosphäre ist künstlerisch geladen,
und es wetterleuchtet gar häufig aus dem musischen
ater
Gewölk. Aber aus diesen unscheinbaren Blättern
stieg eine originelle Figur ins Leben, der junge
leichtsertig=nachdenkliche Lebenskünstler „Anatol“,
und eines Tages verkündet der bedeutendste Kri¬
tiker der Stadt, daß Med. Dor. Arthur Schnitzler
ein beamatischer Dichter von hervorragender Be¬
gabung sei. Der Sohn des stadtbekannten Pro¬
fessors Schnitzler, der elegante Jüngling, den alle
gut kannten, dieser liebenswürdige, einfache
Mensch, ein Dichter?
Zu jener Zeit hing der Dichterlorbeer noch sehr
hoch, er gedieh zumeist im Schatten der monumen¬
talen Klassiker. Und nun sollte ein lebfrischer
Jüngling in die Zunft ausgenommen werden?
Sein Meisterstück hieß „Liebelei“ Nichts von gro¬
ßen Worten, keine tönenden Phrasen, keine über¬
mäßige Leidenschaft, einfach „Liebelei“ die Ge¬
schichte vom Leben und Sterben eines Wiener Vor¬
stadtmädels, das an einem Irrtum zugrunde geht.
Sie hielt eine Liebelei für Liebe und ging ins
Wasser, als sie erfuhr, daß sie dem Manne, dem sie
alles gegeben hatte, nur ein Zeitverireib war, „ein
süßes Mädel“. Diese Figur und ihr Gestalter, das
war dann eine Angelegenheit der ganzen Stadt.
Arthur Schnitzler.
Seither hat Arthur Schnitzler ein bedeutsames
der österreichische dichter begeht om 15. Mai seinen 60 Ge¬
Lebenswerk geschaffen, Dramen, Romane, No¬
burtstag. Als Mitglied der jungösterreichischen dichtergruppe
hat er seinen ersten großen Erfolg mit dem Drama „Liebe ei“
vellen, Werke in Versen und in tristallklarer, fein¬
errungen, in dem sich seine künstlerssche Wesenoart scharf
geschliffener Prosa, zumeist — wollend oder un¬
ausdrückt.“
bewußt — ein Wiener Bilderbuch. Er verkörpert
eine feine, liebenswerte, manchmal liebestolle, im¬
ins Ausland schiebt und daheim eine Trunksucht
mer grazienbegnadete, gütige, stets hilfsbereite
friedliche Welt so ganz unmöglich sein? Nicht
schafft, die dem Wiener im Frieden nicht eigen
Volksindividualität, die nicht systematische Bos¬
eine Welt ohne Kampf, aber ohne Krieg —!
heit und keinen Haß kennt. Die warme Mensch¬
Armes Wien! Niemand hat durch den großen! Bar.
Gesetze gegen den Verkauf geistiger Getränke
lichkeit des Dichters, die überlegene Ironie, die
Krieg so viel verloren wie Du, und nun Du am
an Minderjährige und gegen die Trunksucht sind
sich an keine letzte Wahrheit klammert, die stille
Boden liegst, behandeln sie Dich wie den toten
in Vorbereitung.
Melancholie, wie sie bei feinen Naturen süßer
Löwen. Wie einen Löwen? Nein, wie eine Ab¬
Die Sozialdemokratie propagiert mit allen
Wein auslöst — sie sprechen aus seinen Werken
fallkiste wird diese einst so glänzende Stadt, der
Kräften die volle Abstinenz. Da kommt ein Nach¬
dem bedeutsamen Andenken an eine sterbende
Mittelpunkt einer Weltmacht, behandelt. Nur aus
barstaat der selbst am Boden liegt, und will vom
Stadt, die nie wieder ihres Gleichen ha¬
Gnade und Barmherzigkeit wird sie verprovian¬
niedergerissenen und hingestreckten Oesterreich
tiert, sendet man ihr für teures Geld das Ge¬
ben wird.
durch Aushungerung Erleichterungen für die
Heute, am 60. Geburtstage dieses Dichters, der
ringwertigste an Genuß= oder Lebensmitteln, und
Weineinfuhr erlangen.
das schöne, sinnenfrohe Wien in alle Welt hinaus¬
stellt die Lieferung vollends ein, wenn man poli¬
Das führt uns weit weg von Arthur Schnitz¬
getragen hat, liegt seine geliebte Vaterstadt in
tische Pressionen ausüben will. Einige der Suk¬
ler und seinen Gestalten — o nein, nicht gar so
Agonie. „Anatol“ muß Valuten schieben, wenn
zessionsstaaten sollen an die Entente für ihre „Be¬
weit. Schnitzler hat Wien geliebt und geschildert,
er weiße Wäsche tragen will, das süße Mädel
freiung“ größere Beiträge zu den Kriegskosten ab¬
aber nicht glorifiziert. Er gestaltete als Künstler
schmeckt nach Saccharin, und seine holden Frauen
liefern. Von ihnen verlangt man, daß sie Oester¬
ohne jede politische Absicht. Aber ihm war be¬
kochen für Pensionäre mit „Edelvaluta“.
reich die Kriegsentschädigung stunden, damit die¬
wußt, daß er eine absterbende Welt darstellt und
ses seine Valuta aufzurichten beginne. Amerika
Und aus dem tiefen Bedauern taucht eine
er wurde deshalb von den Nutznießern der Ge¬
hat in vollster Selbstlosigkeit seinen Verzicht aus¬
Frage auf: Darf eine Gemeinschaft so liebenswür¬
walt beiseite geschoben. Er galt nicht als „zuver¬
gesprochen, aber die nächsten Nachbarn (mit Aus¬
dig sein, so kunstfroh, so schönheitstrunken? Kunst
lässig". Wegen seiner Novelle „Gustl“ mußte er
nahme der Tschechoslowakei) für die ein wirtschaft¬
gibt dem Leben die höchste Würze — darf ein
sogar als Reservearzt der Armee „quittieren“.
lich gesundendes Oesterreich eine Lebensfrage ist,
Mahl aus zu viel Gewürz bestehen? Und eine
Sein 50. Geburtstag, der 15. Mai 1912,
benützen das kranke Ländchen, wie die Spekula¬
noch gewichtigere Frage erhebt sich vor uns, eine,
wurde „amtlich“ nicht beachtet. Und sein sechzig¬
tionsbettler das wimmernde Kind. Oesterreichs
die an den Grundfesten des Lebens rüttelt: Ist der
ster? Zehn Jahre, in denen eine Welt, seine Welt
weltbekannte Not soll sie von ihren Schulden be¬
Gütige, Liebenswürdige lebensfähig?
versunken ist, mitsamt den Meistern, die ihn nicht
freien. Jugoslavien und Numänien wollen
beachteten. Seine Werke jedoch sie bestehen und
In der Kriegszeit mühten sich die Preßauguren
Oesterreich die Schulden nur dann stunden, wenn
aus ihnen wird man das Wien von eins. immer
vergeblich, in der Wiener Bevölkerung Haßgefühle
die Entente ihnen die ihren erläßt. Ungarn aber
wieder neu erleben.
zu verbreiten, und ein hoher Funktionär des Aus¬
ist viel tüchtiger, es sperrt den Wienern einfach
Möge ihm Kraft aus seiner Reife zuströmen,
wärtigen Amtes klagte in banger Voraussicht:
die Zufuhr von Schlachtvieh, auf die es ange¬
neues Leben aus dem Zerfall. Denn auch aus
„Wenn man bei uns nicht hassen lernt, werden
wiesen ist, obwohl dies der Friedensvertrag un¬
dem sierbenden Wien erheben sich neue Kräfte,
wir den Krieg nicht gewinnen —“ Man muß
tersagt. Nochmehr es verknüpft das für Wien le¬
dringt inneres Erleben, und aus der Liebelei
dem Manne recht geben: Im Kriege siegen nicht
bensnotwendige Fleisch mit dem schädlichen Wein.
entsieht vielleicht die große Liebe, die Hingabe an
nur die stärkeren Vataillone, sondern auch die in¬
„Kauft mir recht viel Wein ab, und ich will Euch
die Allgemeinheit. Möge sie ihren Dichter finden
tensiveren Hasser, ebenso wie beim Zusammenstoß
dann etwas Fleisch zukommen lassen.“ In Oester¬
des Topfes aus Gußeisen mit dem seinen Porzel¬
und ihr Dichter sie.
reich ist man dabei, den Alkoholgenuß einzu¬
lan dieses zerschmettert wird. Die Frage ist nur,
ob der Krieg Lebensbedingung ist. Sollte eine schränken, der einige Millionen Goldfranken

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