VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 229


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3. 60th Birthday
Was umschließt Schnitzlers Werk? Sein Schauen, seine Empfänglich¬
keit ist nicht „unmittelbar“ eingestellt auf die Wienerische Welt; er spiegelt
sie, nehmt alles nur in allem, durch das Medium menschlicher Gestalten; er
ist tief und eindeutig eingestellt auf Menschen, wie denn seine Hauptwerke
Dramen und Novellen, nicht Romane sind. So ist ihm nicht gegeben,
den Vollklang heimatlicher Natur aus reinster, eigener Empfindung wider¬
klingen zu lassen; nicht, das sichtbare Abbild der seelenvollen alten Stadt,
ihrer baulichen und architektonischen Reize, der durchsiedelten Landschaft
wiederzugeben; nicht, Kulturgeschichte in ihren bleibenden Zeugnissen oder
Geschichte in ihrer Jahrzehnte oder Jahrhunderte überspannenden Ent¬
wicklung zu fassen. Von alledem berührt ihn nur, was als Erlebnis, als
wesenbestimmende Überlieferung, als prägende Umwelt, als gewohnheit¬
formende Atmosphäre in den Menschen seiner Zeit wirksam wurde. In
ihnen, durch sie hindurch, erfühlt und gestaltet er im Widerschein, was
andere unmittelbar dichterisch zu ergreifen trachten, und erfühlt und ge¬
staltet es mit der Sicherheit und Kraft einer Beobachtung, der am lebendi¬
gen Menschen kein noch so geheimes Element seines Wesens verborgen
bleibt. Seine lebendigen Gestalten selber sind die Prismen seiner Wiener
Welt. Sie sind es so sehr, daß es ihm nur selten in letzter Linie darauf
ankommt, den einzelnen, noch so lebendigen Menschen in der vollen Breite
seiner „Individualität“, seines von Umwelt und Überlieferung abgelösten
Eigen=Ichs herauszuheben, sondern eben darauf, prismatische Gestalten
zu schaffen, in denen sich wesenhafte Züge seiner Welt fühlbar typisch ver¬
körpern. Das drängt ihn zur „Komposition“ zum dichterischen Abbild
gesellig=gesellschaftlicher Verhältnisse. Er legt sie nicht „sozial“ im Sinne
einer wirtschaftlichen Terminologie oder einer Klassenauffassung an; die
objektiven „Probleme“ des Klassenkampfes, der verschiedenen Machtgruppen,
fesseln ihn kaum, der mit stiller Leidenschaft das rein menschliche Erleben
sucht und zeichnet — und dies bietet sich ihm in ungemessener Fülle in
dem „bürgerlichen“ intellektuellen, artistischen, literarischen Kreis, dem er
selber angehört; daß zuweilen hochpolitische Stimmungen, Erregungen,
Probleme, Gedankengänge da hineinspielen, ja, wie in „Professor Bern¬
hardi“ vorwalten, gehört zum Wesen dieser Kreise, deren Interessen, Er¬
lebniskreise und Lebensformen er in geduldig=intensiver Gestalter=Arbeit
zu erschöpfen trachtet.
In dieser Menschenwelt fühlt sich der Deutsche aus dem Reich zunächst
befremdet. Sie spricht deutsch, sie erlebt Natur, Genuß, Sinnenfreude,
Geistigkeit, Seelentum nahezu wie er; er begegnet in ihrer Mitte Goethe
und Richard Strauß, Kainz und Beethoven, Platon und Tolstoj irgendwie
ebenso als ihrem Besitz wie daheim als dem seiner Umwelt. Aber nehmen
diese Menschen es mit alledem ebenso ernst wie die vom Reich? Er be¬
ginnt zu zweifeln; der leichte Ton der Rede, der raschere Wechsel der Auf¬
merksamkeit und der Stimmungen, die Instinkthaftigkeit rascherer Ent¬
schließungen, die ausgeglichenere Unbetontheit des Ausdruckes, die schein¬
bare ungehemmte Offenheit des Wesens, die dennoch ein Letztes vom In¬
neren nie hergeben will und streng verhalten in sich schließt, beengen ihn
ebenso wie die von echter Aristokratie mehr oder weniger erfolgreich ab¬
gesehenen Gebärden und Haltungen und anderseits die seltsam unechte „Be¬
dientenhaftigkeit“ des äußeren Auftretens vieler. Der Deutsche beginnt
nachzudenken, zu forschen, zu erwägen. Es ist katholischer Boden, auf
dem er sich bewegt — also ward der strenge Ernst des Protestantismus
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