VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 245

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6oth BirtzaY

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ein Narr, ein Niemand, ein Nichts. Geduld, Geduld, bis er endlich
wächst und sich dehnt, das Haus füllt und den Bogen der Rache
spannt, bis aus der scheinbaren Schlacke die majestätische Glut
der Rache hervorbricht.
Und so birgt immer wieder ein Bettlermantel den hauptmannschen
Helden, ein Weberkittel oder abgetragener Schulmeisterrock den
hauptmannschen Heiligen und Heiland. Selten, spät, kurz, doch um
so kostbarer und voller beschert er ihnen und uns den großen
Rugenblick des Herauswachsens, des Schrankensprengens, der Be¬
freiung, Erfüllung, mag er dann Rausch oder Wunder, Vision oder
Himmelfahrt heißen, — den unbedingten Augenblick des Absoluten.
Dieser dichter ist kein frei schwebender Kriel, sondern ein An¬
täus, und kann nicht in die leere Lust springen, ohne seine Kraft
zu verlieren; er ist ein Baum, dessen Wipfel noch von dem Salz
der Erde zeugt, das er aufsaugt, aber dessen Zweige sich wie
sehnsüchtige Arme himmelwärts breiten und auf dessen Spitzen die
Dögel des Himmels jubilieren.
Liebt Hauptmann den Zettlermantel, den Weberkittel! Nicht
um ihrer selbst willen, gewiß, nur um dessentwillen, was sie be¬
herbergen. Der Künstler seines „Hirtenliedes“ schreit sein Leiden
an der Nothaftigkeit und Häßlichkeit heraus; im Kerker der Gro߬
stadt hält ihn kaum noch das Mitleid, die Solidarität. Seine
Sehnsucht dürstet nach den Gefilden der Hirten. Fast zu hestig ist
in Hauptmann dieser drang geworden in pateiarchalische oder
märchenhafte oder vom Zauber zeitlicher und örtlicher Ferne ver¬
goldete Welten; sein deutsches Herz beherbergt Südsehnsucht und
Romantik.
Aber seine überzeugenösten dichtungen wachsen auf der Heimat¬
erde, im Umkreis seiner Jugendwelt, aus der Not der Gegenwart,
aus dem Alltag, aus dem völkischen, aus dem Deutschtum. Sie
wachsen freilich darüber hinaus in eine zweite Heimat, denn etwas
wie Heimweh nach einem Metakosmos ist die „andere Seele“ dieses
Dichters. Bei allem Verhastetsein im Wirklichen geht er nicht in
flämischer, strotzender Daseinsfreude ganz darin auf. Mag er aus¬
nahmsweise wie im „Ketzer von Soana“ eine Hymme auf das
sinnlich Naturhafte anstimmen, mag eine Erzrealistin wie die Wasch¬
frau Wulffen unverwüstlich und „in allen Wassern gewaschen“ sich
tummeln und überall zurechtfinden (auch in den Taschen anderer!) —