VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 283

6oth Birthday

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lebens, des läßlichen Genusses; der Hunger ist die große Macht
in dem Hauptwerk jenes; den Webern, die Liebe ist das Movens
in den unvergeßlichsten Dichtungen Schnitzlers. Dort ist noch Volk,
hier ist Gesellschaft, und zwar eine schon in Auflösung befindliche,
die mondäne Gesellschaft einer großstädtischen Spätzeit; Wien gibt
die besondere Färbung dazu.
Er packt aber doch selten eigentliche Gesellschaftsprobleme an,
mag auch die Stellung der Frau, der Schauspielerin oder des Künstlers,
der Gegensatz von Wissenschaft und Kirche, die Judenfrage, die
Offiziersehre da oder dort in den Mittelpunkt gerückt sein. Es ist
eine Gesellschaft, in der das Individuum seine Eigenart schon fast
ins Abermaß entwickelt hat, und, sich selber am wichtigsten geworden,
seinen egoistischen Lebenswillen anspruchsvoll verfolgt, wodurch es
eine Unzahl mannigfaltiger Konflikte heraufbeschwört, Einzelfälle,
denen dieser Meister der Individualpspchologie seine ganze Hin¬
gabe wiömet. Er bringt damit eine ganz wesentliche Erscheinung
der modernen Welt zum Ausdruck, denn an der Übersteigerung des
Individualismus und ihren Folgen laboriert die Zeit besonders
mühsam herum. Die großen nationalen oder sozialen Fragen aber,
die Welt der Industrie, der Wirtschaft, der harten, eisernen, nüch¬
ternen Tatsächlichkeiten und Machtkämpfe, die großartige, aber
brutale Dynamik der Zivilisationszeit vergißt man über all diesen
Einzelschicksalen, vor allem über dieser Begehrlichkeit, diesen Nöten
des Liebeslebens, der Ehe, des flterns, Sterbens.
Der Lebenstrieb im engern und weitern Sinn des Wortes
ist die Grundmacht in Schnitzlers Psychologie. Er wird nicht müde,
diesen elementarsten Instinkt triumphieren zu lassen über alle Mächte,
die sich ihm entgegenstellen können, über Treue und Liebe (etwa
in der meisterlichen Novelle „Sterben“), über Pflichten und Ehr¬
gefühl, über soziale Gebote und eigenen Stolz. Der hemmungs¬
lose Jubelausbruch des treuherzigen Leutnant Gustl, der durch den
Schlagfluß seines Widerparts zufällig gerettet wird: „Er ist tot,
und ich darf leben!“ ist ein drastisches Symbol für den un¬
widerstehlichen Lebenstrieb der Schnitzlerschen Menschlein. Das
Vitale, Natürliche regiert sie, und ebensoweit wie von einer Welt
kantischen Pflichtgefühls sind wir von corneilleschem oder schillerschem
Heroismus. Selbst wo er wie im „Schleier der Beatrice“ oder
im „Jungen Medardus“ ausnahmsweise zum Stildrama, zur dra¬