VII, Verschiedenes 10, Antisemitismus, Seite 10

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0. Antisenitisn
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tum enge, kleine Formeln erfindet und gänzlich die reiche
Sieht man sich die Werke der jüdischen Schriftsteller in
Mannigfaltigkeit der Charaktere und Schicksale über¬
der deutschen Gegenwart an, so wird man bei vielen
sicht. Nun gibt es aber in der Geschichte keine Gemein¬
von ihnen deutlich jüdische Züge entdecken. Diese Züge
schaften, die so zerklüftet, so individualisiert, so verschie¬
sind sowohl die ethische Uberzeugung, die Gesinnung der
denartig und in sich entgegengesetzt wären wie gerade
Humanität, die Richtung auf die ewigen Probleme wie
Deutsche und Juden. Vieles in ihrer Geschichte erklärt
andererseits auch die scharfe Beobachtungsgabe, der kri¬
sich aus diesem Charakter. Die Antisemiten sind auch
tische Verstand, die Hingabe an Zeitfragen, der psycho¬
hierin sträflich primitiv; sie glauben, daß, wenn sie den
logische Scharfblick. Dies alles sind jüdische Eigen¬
Juden Juden und den Deutschen Deutschen nennen,
schaften. Das sei zugegeben, wenn man auch im einzelnen
große völkerpsychologische Entdeckungen gemacht zu
verschiedener Meinung sein kann. Wo aber ist das Jü¬
haben.
dische, der Generalnenner aller dieser Eigenschaften?
„So viele Köpfe, so viele Sinne. Das ist eigentlich die
Er ist nirgends zu finden. Gerade bei Dingen des Geistes
Devise unserer Nation“, sagt Goethe einmal von den
zeigt es sich, wie verantwortungslos und bequem der An¬
Deutschen. Aber er sagt auch: „Deutsche gehen nicht
tisemitismus verfährt, der ebenso wie für seinen Rassen¬
zugrunde, so wenig wie die Juden, weil es Individuen sind.“
glauben und seinen Nationalismus auch für das Juden¬
Jüdische Forschung in Not
Von Prof. Dr. Elbogen
Ringsum also drohende Zusammenbrüche, von denen
Wenn ich ein Tagebuch führte, so hätte es während
jeder über Nacht zur Katastrophe führen kann. Es
der letzten Wochen die folgenden Eintragungen er¬
wird sicher Leser geben, die keines der erwähnten Insti¬
halten müssen:
tute für unentbehrlich halten und nicht einsehen wollen,
24. Juni: Alarmruf des Kuratoriums des Rabbiner¬
warum nicht in einer Zeit, in der alles stürzt, auch sie
seminars in Berlin zum Zweck dringender Besprechun¬
fallen sollen. Tatsächlich hätte ich auch diese Meinung
gen über Maßnahmen, welche den finanziellen Zusam¬
eines Bankfachmanns in das Tagebuch aufnehmen
menbruch der drei in Deutschland der Ausbildung
können, daß die wissenschaftliche Forschung Lurus ist
jüdischer Theologen dienenden Hochschulen verhüten
und in diesen Zeiten besondere Mittel nicht in Anspruch
können.
nehmen darf. Der sonst wahrscheinlich sehr kluge Kauf¬
25. Juni: Die ITA veröffentlicht ein Rundschreiben
mann wird sicher an den Fabriken, an denen er Inter¬
des Rabbinerseminars an seine ehemaligen Zöglinge, in
esse hat, die wissenschaftlichen Laboratorien nicht
dem auf die schwere Notlage der Anstalt hingewiesen
und dringendst nach Hilfe gerufen wind. In den letzten#chließen lassen, obwohl die Betricbe sellst notleiden
sind und die Ergebnisse der kostspieligen wissenschaft¬
zehn Monaten sei es der Verwaltung trotz aller Anstren¬
lichen Versuche im Augenblick nicht verwertet werden
gungen unmöglich gewesen, die erforderlichen Mittel
können.
herbeizuschaffen. Subventionen von Landesverbänden
Wissenschaftliche Arbeit ist niemals Luxus, ihre
und Gemeinden seien in kurzer Zeit um 50000 Mark
Früchte sind vielleicht nicht immer sofort greifbar,
herabgesetzt wonden, die Ausgaben seien zwar eben¬
aber sie gehen nie verloren. Ihr Ertrag ist wie das
falls um dieselbe Summe gesenkt, aber auch der so
Saatkorn, das in die Erde gesenkt wird, das ständig
verminderte noch übriggebliebene Betrag sei gegen¬
sorgsamer Pflege bedarf und erst nach geraumer Zeit
wärtig nicht aufzubringen.
zur Reife gelangt. Redliche wissenschaftliche Arbeit
28. Juni: Das Kuratorium der Hochschule für die
versagt auf die Dauer nicht, sie trägt ähre Frucht;
Wissenschaft des Judentums erstattet in der General¬
geistige Anstrengungen sind nicht verloren, wenn ihre
versammlung den Geschäftsbericht für da Jahr 1951,
Wirkung oft auch erst spät bemerkbar wird. Unter¬
der mit einem Fehlbetrag von 52000 Mark abschließt.
läßt man es aber, die Saat auszustreuen, dann geht nicht
Die Deckung erfolgte durch Rückgriff auf das Stif¬
nur keine Ernte auf, sondern der Acker verwildert,
tungskapital, eine Wiederholung dieser Operation
Unkraut und Steine verdenben ihn, Auch für die Ver¬
würde zur Aufzehrung der letzten Reserven führen.
nachlässigung der Forschung gilt das Wort des Dichters,
60 Jahre lang habe die Hochschule einen schweren
daß keine Ewigkeit zurückbringt, was man dem
Kampf geführt, die gegenwärtige Krise aber scheine
Augenblick versagt.
unüberwindlich, es bedürfe aller Einsicht und alles
Wir Juden befinden uns in einer besonders schwie¬
guten Willens der deuischen Judenheit, uum die Anstalt
rigen Lage, wir müssen für die Kosten unserer geistigen
vor dem Verfall zu bewahren.
Arbeit selbst eintreten, weil niemand sonst für uns
1. Juli: Sitzung in der Akademie für die Wissen¬
sorgt. Den christlichen Konfessionen stellt der Staat
schaft des Judentums — das erstemal nach meiner Er¬
theologische Fakultäten und Forschungsinstitute, uns
innerung, daß der Verwaltungsvorstand den wissen¬
gewährt er nichts dergleichen, wir sind lediglich auf
schaftlichen Vorstand eingeladen hat, um finanzielle
die eigene Kraft angewiesen. Die überwiegende Mehr¬
Fragen mit ihm zu besprechen; aber die Finanzlage ist
zahl unserer Glaubensgenossen ist bisher sorglos an
so verzweifelt, dal nur eine vollständige Schließung des
dieser Notwendigkeit vorübergegangen, sie erkannte
Instituts oder radikaler Abbau in Frage kommt und für
wohl den Nutzen unserer wissenschaftlichen Institute,
diese Eventualitäten die Meinung dles wissenschaft¬
glaubte sie aber unter dem Schutze der jüdischen Ge¬
lichen Vorstands gehört werden soll.
meinden sicher geborgen; sie ahnte nicht, welche An¬
6. Juli: Mitteilung des Kuratoriums des Jüdisch¬
strengungen auch in wirtschaftlich günstigen Zeiten
Theologischen Seminars in Breslau, daß seine ohnehin
notwendig waren, um sie zu erhalten. Seltsam genug,
sehr beschränkten Mittel durch verschiedene Miets¬
wir Juden haben uns in allen Epochen um unser
ausfälle sich weiter um etwa 20000 Mark vermindern,
geistiges Erbe bemüht und auch unter den ungünstigsten
und die verzweifelte Frage, ob „angesichts des Wegfalls
Daseinsbedingungen es nicht verkümmern lassen; in der
solcher ansehnlichen Summen der Betrieb der Anstalt
Zeit der Freiheit und des wirtschaftlichen Aufschwungs
weiter aufrechterhalten werden könne“.