VII, Verschiedenes 11, 1902–1906, Seite 44

box 41/2
Miscellaneous
E. Koväcs: Das ungarische Drama.
42
wicklung der Weltanschauung. Bünk wird ein seelischer Krüppel, die kluge
Königin Gertrud wird ermordet, die schöne Melinda verliert den Verstand,
später das Leben, weil . . . ja, weil der Prinz Otto sie verführt hat. Mittels
eines Schlaftrunkes verführt. Sie ist dem liebenden und geliebten Gatten
nicht untren geworden, ein Bubenstück hat ihre — unser streuger Strafkoder
würde sagen — Zurechnungsfähigkeit geraubt. Ein Unglück? Ein ver¬
pfuschtes Leben? Eine Tragödie? Einst hat man das so empfunden. Die
Vielzuvielen empfinden es heute nicht anders. Aber die Umwertung aller
Werte hat begonnen. Der die Frauenehre, nicht die kleinliche, physische, sondern
die seelische, die großartige richtig einschätzt, dem wird dies Drama wenig
Shakespeare hat eine
sagen. Die Entwicklung der Weltanschanung
Komödie geschrieben und wir fühlten die Tragik, ausschließlich die Tragik des
„Kaufmanns von Venedig“.
Die mächtige Arbeit des Dreiundzwanzigjährigen hat man nicht be¬
merkt. Und die müde Hand ließ die Feder fallen. Und die Vergangenheit
des ungarischen Dramas ist durch diesen empörend=einfältigen Zufall — eben
Vergangenheit.
Die Gegenwart wird kaum Zukunft werden. Man könnte natürlich auch
einen milderen Maßstab nehmen; höfliche Konzessionen machen; die Halb¬
talente und die dramatischen Handwerker unterscheiden: aber im letzten
Grunde kommt es nur darauf an, daß man mit Höhe und Breite der Er¬
scheinungen auch den Maßstab dem Leser angibt. Wenn man also sagl: von
dem heutigen deutschen Drama wird der eine Gerhart Hauptmann gewiß,
und vielleicht ... vielleicht auch Arthur Schnitzler unser Zeitalter überleben,
dann muß man es auch klipp und klar gestehen, daß die Gegenwart des
ungarischen Dramas kaum Zukunft werden wird. Es fehlt noch immer die
große, überwältigende Persönlichkeit; und die vorhandenen, mitunter sehr
reichen Begabungen werden von einer kulturellen Strömung gestört, die man
die nationale, vielleicht noch richtiger die politische Tendenz des ungarischen
Dramas nennen könnte.
Das ungarische Drama will einen nationalen Charakter haben. (Die
Welt als Wille und Theatervorstellung ...) Es ist ja nur eine oberfläch¬
liche Theorie, die nicht überlegt, daß die ungarische Dramenliteratur die naur¬
nale Note haben muß, auch ohne die fortwährend betonte Absicht; aber die
zum Ueberdruß wiederholte, ganz überflüssigerweise unterstrichene Tendenz
kann eben die Halbtalente beirrm. Coriolan ist ein englisches, Iphigenie oder
der Tasso ein deutsches Kunstoerk; und wenn die ungarischen Dramatiker
trotzdem die vaterländische Geschichte der ausländischen womöglich vorziehen,
so ist das ihr gutes Recht, — nur darf das historische Allgemeinbewußtsein nicht
die persönliche Charakteristik ersetzen. Auch das Gesellschaftsdrama kann ge¬
trost die Aeußerlichkeiten der ungarischen Gesellschaft verzeichnen, — nur wird
eine allzustrenge Kontrolle dieser Aeußerlichkeiten die inneren Probleme ver¬
gessen, vielleicht verdrängen. Dr. Stockmann ist unleugbar der Arzt eines
norwegischen Badeortes, von Wehrhahn in der Tat ein preußischer Beamter:
wie ist das aber nebensächlich! Menschen soll der Dichter gestalten! Mit