VII, Verschiedenes 11, 1902–1906, Seite 46

Miscellaneous
sagt. Und dann passen mir auch die poli¬
##tischen Verhältnisse nicht mehr. Man kennt sich —
ja nicht mehr aus! Der Anarchismus ist nicht
mehr modern, die Sozialdemokraten sind seit der
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Wahlrechtsbewegung die reinste Hofpartei gewor¬
den, der Liberalismus war nie modern und der
Antisemitismus ist eine zweischneidige Sache. So
oder so: Oesterreich muß zugrunde gehen, wenn
so weiche Menschen wie ich nicht bei Zeiten aus¬
kneifen. Mit mir hat die Natur mehr gewollt, als
sich auf so steinigen Boden erreichen läßt. Ich
darf die Natur nicht behindern und gehe. Ob ich
wiederkomme? Müßige Frage. Was könnte noch
aus dem Burgtheater werden, wenn es einmal
in die richtigen Hände käme, was aus ganz Oester¬
reich, wenn sein Ministerpräsident meinen Witz
und meine Vielseitigkeit hätte. Aber ich dränge
mich nicht auf. Ich veröffentliche höchstens Tage¬
buchblätter.
Berlin, Feber 1906. Die zwei Städie
Wien und Berlin sind miteinander überhaupt
nicht zu vergleichen. Sie haben höchstens das eine
gemeinsam, daß ich mich in leiden nicht wohl
fühle. Auch hier wie dort Menschen, die das
Aeußerste an Kunstbarbarismus imstande sind.
Es beweist nichts, daß sie Schnitzler gelten lassen,
mit Wedekind kokettieren und bei Hauptmann
Rückzug blasen. Schnitzter hat mir mit der Zeit
zuviel Race bekommen, Wedekind betreibt mir
die Originalität zu systematisch und auf Haupt¬
mann zu schimpfen, seitdem er Pippas Tanzlehrer
geworden, ist Kraftvergendung. Man müßte einen
Dichter entdecken, der sich von Schnitzlers Ein¬
seitigkeit frei weiß, die Kühnheit Wsitt,
ohne mit ihr so zu protzen, der nicht wie Höff¬
mannsthal den Nervenzuckungen der Cysold Heka¬
tomben griechische Verse opfert, der Stimmungs¬
mensch, Histeriker, Zyniker, Dialektiker und Diabo¬
liker in einer Person ist. Man müßte ihn entdecken,
wenn ich nicht zwei Dramen geschrieben hätte, welche
mir als der Inbegriff dessen erscheinen, was ich
von der deutsche Bühne verlange. Das eine ist
„Der Meister“ und mein neues Drama „Der
Andere“ ist auch ein Meisterstück. Und man be¬
trachte das Repertoire. der Berliner Theater!
Wo ist da ausreichend Hermann Bahr vertreten,
um nicht von mir in der ersten Person zu reden.
Mit einem Wort: Berlin gefällt mir nicht. Ich
will noch nicht das letzte Wort sprechen, solange
die Verhandlungen mit Reinhard im Zuge sind.
Aber soviel weiß ich, daß ich als Bürger auch
nicht her gravitiere. Eigentlich bin ich meinem
innersten Glaubensbekenntnisse nach weder Wiener
noch Berliner, sondern Weltbürger in höherem
wurde. Die Stadt müßte erst gebaut werden, in
die ich hineinpasse.
Wien, 24. Feber 1906. Heute ist der vier¬
zehnte Tag, seitdem ich ein Tagebuch führe. Es¬
ist ein Glück, daß vor dem „Weg“ noch keine
andere Redaktion den Einfall hatte, mir soviele
Bekenntnisse abzunötigen. Es wäre eine ganze
Bibliothek von Tagebuchblättern geworden, die
alles Dagewesene an Aufzeichnungen schon durch
den Umfang geschlagen hätte. Auch weiß ich
nicht, ob ich es ein ganzes Leben ausgehalten
shätte, mir jeden Tag etwas Bedeutendes zu den¬
iken. Seitdem ich es mir zur Gewohnheit gemacht
habe, genieße ich bei Lebzeiten die Unsterblichkeit.
Ich lese allwöchentlich meinen Nachlaß bereits:
gedruckt. Ich lebe in der Nachwelt, was mir mit
Tagebuchblätter.
Rücksich auf die undankbaren Zeitgenossen ganz
angenehm ist. Das Traurige darau ist, daß ich
Von Herrmann Bahr.
soviel von mir selber reden muß, um überhaupt
(Aus der im Verlaufe der nächsten Woche er¬
interessant zu sein. Die Wiener tun mir im
scheinenden Nummer der Wochenschrift „Der
Grunde leid. Wie werden sie in Jahrzehnten
den Vorwurf ertragen, mich so schmählich ver¬

kannt zu haben.
Wien, 20. Feber 1906. Merkwürdige
Wien, 25. Feber. Hente habe ich den ganzen
Meuschen das, diese Wiener. Seit mehr als zwölf
Tag über das Problem nachgedacht, wie man den
Jahren leben sie mit mir in einer Stadt und
schiffbrüchigen Realismus wieder flott machen
heute entdeckte ich zu ihrer Schande, daß es
könnte. Man müßte den Kompetenzkreis des
lauter Fremdlinge sind, die rings um mich wohnen.
Theaters erweitern und noch eins: man mäßte
Der einzige leibhaftige Bürger, der sich so nennen
die Dichter abschaffen. Sie sinuieren und kom¬
darf, ohne mit Kulturbegriffen ein frivoles Spiel
binieren, sie destillieren zuviel, sie sind Berauschte
zu treiben, bin ich selber. Die Reinkultur des
und verbreiten zuviel Schnapsgeruch, womit nur
Urwieners. Alles übrige ist degenerierte Masse.
die Nase realistisch bedient wird. Man müßte
Wie wäre sonst das Verhalten des Publikums zu
vor Beginn einer jeden Theatervorstellung einen
meinen Stücken zu erklären? Oh, Oh! Wenn ich
ganzen Straßenzug verhaften und ihn auf die
nicht soviel Geist und Witz hätte, würde ich mich
Bühne eskortieren. Dort sollen nun die Leutchen
giften. Aber ich in es nicht, ich in es nicht. Ich
weiter agieren, ihre Geschäfichen abwickeln, ihre
wandre lieber aus. Der Weg nach München ist
Machenschaften und Gesprache zu Ende führen,
mir mit zwei Jahresgagen versperrt, aber wenn
ich mir die Engagementanträge an sämtliche sich amüsieren, sich anfeinden, herumflirten und