12. 12.
Schnitzler's Death Schnitzler's Death
box 42/6 box 42/6
OBSERVERe OBSERVERe
I. österr. behördl. konzessioniertes I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11 WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43 TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus Ausschnitt aus
Der Abend 7715 Der Abend 7715
oune oune
22. 0KT 1931 22. 0KT 1931
Artur Schnitzler. Artur Schnitzler.
Artur Schnitzler, der tonangebende Dichter Wiens vor Artur Schnitzler, der tonangebende Dichter Wiens vor
dem Kriege, der Haupt= und Residenzstadt Wien, starb gestern, dem Kriege, der Haupt= und Residenzstadt Wien, starb gestern,
siebzig Jahre alt. Sein Auftreten fällt in eine Zeit des Wohl¬ siebzig Jahre alt. Sein Auftreten fällt in eine Zeit des Wohl¬
standes, einer gewissen Uebersättigung gehobener Publikums¬ standes, einer gewissen Uebersättigung gehobener Publikums¬
schichten, in eine Epoche des Atemholens vor großen welt¬ schichten, in eine Epoche des Atemholens vor großen welt¬
geschichtlichen Ereignissen. Der junge Arzt, eng verbunden geschichtlichen Ereignissen. Der junge Arzt, eng verbunden
der träumerischen, vergangenheitstrunkenen Stadt und der der träumerischen, vergangenheitstrunkenen Stadt und der
Landschaft ringsum, die, vom Süden leicht angerührt, zur Landschaft ringsum, die, vom Süden leicht angerührt, zur
Nachdenklichkeit eintud wie selien eine, widmete sich dem Zu¬ Nachdenklichkeit eintud wie selien eine, widmete sich dem Zu¬
stand des Gemütes des Wiener Menschen, wurde der Diagno¬ stand des Gemütes des Wiener Menschen, wurde der Diagno¬
stiker der Wiener Seele, und keiner seiner Schüler und Nach¬ stiker der Wiener Seele, und keiner seiner Schüler und Nach¬
ahmer hat ihn in dieser Kunstübung übertreffen können. So ahmer hat ihn in dieser Kunstübung übertreffen können. So
kam er zur Gesellschaftskritik, die er, ohne den äußeren Ur¬ kam er zur Gesellschaftskritik, die er, ohne den äußeren Ur¬
sachen, den materiellen Gründen, nachzugehen, schonungslos sachen, den materiellen Gründen, nachzugehen, schonungslos
übte. Er begnügte sich mit der Charakterisierung des Bürger¬ übte. Er begnügte sich mit der Charakterisierung des Bürger¬
tums, das keine Ziele mehr hatte, keine Zukunftsfreude, er tums, das keine Ziele mehr hatte, keine Zukunftsfreude, er
führte, soweit seiner vornehmen Art der Kampf zusagte, führte, soweit seiner vornehmen Art der Kampf zusagte,
Fehde gegen überlebte Ansichten, gegen den Autoritätswahn Fehde gegen überlebte Ansichten, gegen den Autoritätswahn
eines sehr morschen Staates. eines sehr morschen Staates.
Das alte Oesterreich, die Monarchie, hat keinen Das alte Oesterreich, die Monarchie, hat keinen
besseron, keinen liebevolleren Betrachter und Schilderer ge¬ besseron, keinen liebevolleren Betrachter und Schilderer ge¬
habt, als Artur Schnitzler, in dessen Büchern und Dramen habt, als Artur Schnitzler, in dessen Büchern und Dramen
jene Stimmung, widerspiegelt, die dem altersschwachen jene Stimmung, widerspiegelt, die dem altersschwachen
Staat„eigen war: schmerzliches Bedauern, daß eine lieb¬ Staat„eigen war: schmerzliches Bedauern, daß eine lieb¬
gewordene Art der Lebensanschauung, nicht zu sehr an¬ gewordene Art der Lebensanschauung, nicht zu sehr an¬
strengenden, mehr bequemen Lebensführung nicht von Dauer strengenden, mehr bequemen Lebensführung nicht von Dauer
sein wurde. Die Angst vor dem Ende, das allezeit wache sein wurde. Die Angst vor dem Ende, das allezeit wache
Wissen vom Tod, Schwermut geistert durch die Schnitzler Wissen vom Tod, Schwermut geistert durch die Schnitzler
schen Dialoge, in den lebendigsten und sprachschönsten Seiten schen Dialoge, in den lebendigsten und sprachschönsten Seiten
seiner Prosg. Verklärend aber, gewissermaßen rechtfertigend, seiner Prosg. Verklärend aber, gewissermaßen rechtfertigend,
ist über allé diese Zustandsaussagen Skeptizismus gebreitet, ist über allé diese Zustandsaussagen Skeptizismus gebreitet,
das Achselzücken des Menschenkenners, der diese verwesende, das Achselzücken des Menschenkenners, der diese verwesende,
wenngleich heißgeliebte österreichische Kultur, die nur ein wenngleich heißgeliebte österreichische Kultur, die nur ein
Brüchteil, wenn auch ein liebenswürdiger, der großen west¬ Brüchteil, wenn auch ein liebenswürdiger, der großen west¬
europäischen war, aufgibi, in die Vergangenheit, in die europäischen war, aufgibi, in die Vergangenheit, in die
Geschichte entläßt, ohne neue Formen des Zusammenlebens Geschichte entläßt, ohne neue Formen des Zusammenlebens
anzukündigen, zu begrüßen. anzukündigen, zu begrüßen.
Der österreichische Mensch der Jahrhundertwende, der Der österreichische Mensch der Jahrhundertwende, der
Wienerdes kaiserlichen Wien — mit Artur Schnitzler Wienerdes kaiserlichen Wien — mit Artur Schnitzler
nimmt er endgültig Abschied von einer gärenden in gewal¬ nimmt er endgültig Abschied von einer gärenden in gewal¬
tige Wandlung gedrängten Zeit, in die er sich einmengen, tige Wandlung gedrängten Zeit, in die er sich einmengen,
einmischen nicht wollte oder nicht konnte. einmischen nicht wollte oder nicht konnte.
W—r. W—r.
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oune oune
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Artur Schnitzler. Artur Schnitzler.
Artur Schnitzler, der tonangebende Dichter Wiens vor Artur Schnitzler, der tonangebende Dichter Wiens vor
dem Kriege, der Haupt= und Residenzstadt Wien, starb gestern, dem Kriege, der Haupt= und Residenzstadt Wien, starb gestern,
siebzig Jahre alt. Sein Auftreten fällt in eine Zeit des Wohl¬ siebzig Jahre alt. Sein Auftreten fällt in eine Zeit des Wohl¬
standes, einer gewissen Uebersättigung gehobener Publikums¬ standes, einer gewissen Uebersättigung gehobener Publikums¬
schichten, in eine Epoche des Atemholens vor großen welt¬ schichten, in eine Epoche des Atemholens vor großen welt¬
geschichtlichen Ereignissen. Der junge Arzt, eng verbunden geschichtlichen Ereignissen. Der junge Arzt, eng verbunden
der träumerischen, vergangenheitstrunkenen Stadt und der der träumerischen, vergangenheitstrunkenen Stadt und der
Landschaft ringsum, die, vom Süden leicht angerührt, zur Landschaft ringsum, die, vom Süden leicht angerührt, zur
Nachdenklichkeit eintud wie selien eine, widmete sich dem Zu¬ Nachdenklichkeit eintud wie selien eine, widmete sich dem Zu¬
stand des Gemütes des Wiener Menschen, wurde der Diagno¬ stand des Gemütes des Wiener Menschen, wurde der Diagno¬
stiker der Wiener Seele, und keiner seiner Schüler und Nach¬ stiker der Wiener Seele, und keiner seiner Schüler und Nach¬
ahmer hat ihn in dieser Kunstübung übertreffen können. So ahmer hat ihn in dieser Kunstübung übertreffen können. So
kam er zur Gesellschaftskritik, die er, ohne den äußeren Ur¬ kam er zur Gesellschaftskritik, die er, ohne den äußeren Ur¬
sachen, den materiellen Gründen, nachzugehen, schonungslos sachen, den materiellen Gründen, nachzugehen, schonungslos
übte. Er begnügte sich mit der Charakterisierung des Bürger¬ übte. Er begnügte sich mit der Charakterisierung des Bürger¬
tums, das keine Ziele mehr hatte, keine Zukunftsfreude, er tums, das keine Ziele mehr hatte, keine Zukunftsfreude, er
führte, soweit seiner vornehmen Art der Kampf zusagte, führte, soweit seiner vornehmen Art der Kampf zusagte,
Fehde gegen überlebte Ansichten, gegen den Autoritätswahn Fehde gegen überlebte Ansichten, gegen den Autoritätswahn
eines sehr morschen Staates. eines sehr morschen Staates.
Das alte Oesterreich, die Monarchie, hat keinen Das alte Oesterreich, die Monarchie, hat keinen
besseron, keinen liebevolleren Betrachter und Schilderer ge¬ besseron, keinen liebevolleren Betrachter und Schilderer ge¬
habt, als Artur Schnitzler, in dessen Büchern und Dramen habt, als Artur Schnitzler, in dessen Büchern und Dramen
jene Stimmung, widerspiegelt, die dem altersschwachen jene Stimmung, widerspiegelt, die dem altersschwachen
Staat„eigen war: schmerzliches Bedauern, daß eine lieb¬ Staat„eigen war: schmerzliches Bedauern, daß eine lieb¬
gewordene Art der Lebensanschauung, nicht zu sehr an¬ gewordene Art der Lebensanschauung, nicht zu sehr an¬
strengenden, mehr bequemen Lebensführung nicht von Dauer strengenden, mehr bequemen Lebensführung nicht von Dauer
sein wurde. Die Angst vor dem Ende, das allezeit wache sein wurde. Die Angst vor dem Ende, das allezeit wache
Wissen vom Tod, Schwermut geistert durch die Schnitzler Wissen vom Tod, Schwermut geistert durch die Schnitzler
schen Dialoge, in den lebendigsten und sprachschönsten Seiten schen Dialoge, in den lebendigsten und sprachschönsten Seiten
seiner Prosg. Verklärend aber, gewissermaßen rechtfertigend, seiner Prosg. Verklärend aber, gewissermaßen rechtfertigend,
ist über allé diese Zustandsaussagen Skeptizismus gebreitet, ist über allé diese Zustandsaussagen Skeptizismus gebreitet,
das Achselzücken des Menschenkenners, der diese verwesende, das Achselzücken des Menschenkenners, der diese verwesende,
wenngleich heißgeliebte österreichische Kultur, die nur ein wenngleich heißgeliebte österreichische Kultur, die nur ein
Brüchteil, wenn auch ein liebenswürdiger, der großen west¬ Brüchteil, wenn auch ein liebenswürdiger, der großen west¬
europäischen war, aufgibi, in die Vergangenheit, in die europäischen war, aufgibi, in die Vergangenheit, in die
Geschichte entläßt, ohne neue Formen des Zusammenlebens Geschichte entläßt, ohne neue Formen des Zusammenlebens
anzukündigen, zu begrüßen. anzukündigen, zu begrüßen.
Der österreichische Mensch der Jahrhundertwende, der Der österreichische Mensch der Jahrhundertwende, der
Wienerdes kaiserlichen Wien — mit Artur Schnitzler Wienerdes kaiserlichen Wien — mit Artur Schnitzler
nimmt er endgültig Abschied von einer gärenden in gewal¬ nimmt er endgültig Abschied von einer gärenden in gewal¬
tige Wandlung gedrängten Zeit, in die er sich einmengen, tige Wandlung gedrängten Zeit, in die er sich einmengen,
einmischen nicht wollte oder nicht konnte. einmischen nicht wollte oder nicht konnte.
W—r. W—r.