VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 1

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13. Miscellaneous
„OBSERVER
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Ausschnitt aus:
8-Uhrblatt, Wien,
19.7.1933.
vom
Der Dichter Hermann Bahr
Zu seinem siebtesten Geburtstag
Hermann Bahr feiert heute seinen siebzigsten Geburts matik ein leichtes Spiel um verbotene Liebesfreuden. Das
tag. In einem jeden auch nur einen schwachen Funken de tänzelt so leichthin an Abgründen vorbei und plaudert
künstlerischen Eros in sich verspürenden Menschen wir oberflächlich um Dinge herum, die in Wirklichkeit viel tiefer
sind, als sie von Bahr genommen werden. Die Ursprüng¬
dieser Funke leuchtend aufglimmen, wenn er in Be¬
lichkeit und Natürlichkeit seines Spielertums begründet der
rührung kommt mit Werk und Wesen der Spieler= und
Künstlertum sprühenden Persönlichkeit Hermann Bahrs Künstler mit einer diesbezüglichen oberösterreichischen Erb¬
Schwarm aller jünglinghaft leichtfertigen Schöngeistler, war anlage: „Hier ist jeder Mensch", schrieb er einmal, „ein
der junge Jurist Bahr der Schrecken aller sich ihrer Würde Spieler. Hier wird alles zur Szene. Hier fühlt jedes Da¬
bewußten Hofräte und Literaturprofessoren. Geborener sein sich erst im Schein erfüllt. Wir sind ein Volk geborener
Künstler, spürte er es in sich, daß etwas Neues, Quellfrische Komödianten. Jedes Erlebnis wird uns zur Rolle.
Der Wiener Impressionismus aber, der Asthetisch¬
Lebendiges in der Kunst geschaffen werden müsse. Denn
sowohl mit der idealisierenden Schablone des goldschnitt Spielerische, das nicht wagt, ein Ethos zu haben, eine
sittliche Entscheidung zu treffen, das, wie jede relativistische
gebundenen Klassizismus als auch mit der Poesiealbum¬
seligkeit eines mädchenpensionatsbeliebten nervenschwachen Kunst, zersetzend wirkt, muß heute abgelehnt werden.
Hermann Bahr selbst hat mit ihm gebrochen, als er zum
Romantizismus wurde seinem lebendigen, ursprünglichen,
gegen jegliche Schablone protestierenden Künstlertum nicht Katholizismus übertrat. In seiner 1928 erschienenen
Schrift „Himmel auf Erden“, die Plaudereien über Fragen
Genüge geleistet. So fuhr er nach Berlin, die „neue Rich¬
tung“, die lebendige Kunst, jene Kunst, die das Leben, die des Religiösen und Künstlerischen enthält, wird er nicht
Jugend, den Sozialismus für sich hatte, den Natura müde, auf den kunstzersetzenden Charakter
jeglichen Relativismus hinzuweisen. Als Euri¬
lismus, kennenzulernen. Im Kreise der Schlaf, Holz,
Tovote, Sudermann lernte er ihn kennen, in pides den Satz aufstellte, daß dieselbe Handlung gut und
brünstig lieben und nannte ihn die „Moderne". Dann fuhr böse sein könne, je nach der Person und den Umständen,
war das griechische Drama zu Ende. Denn wenn es keine
er, lebenstrunkener Naturalist, nach Frankreich zum Meister
objektiven, allgemeinen, unter allen Umständen verpflich¬
des Naturalismus, zu Zola, um sich in den „Bauch vor
tenden Normen der Sittlichkeit gibt, dann gibt es auch
Paris" zu stürzen.
keine moralischen Konflikte mehr, mithin kein Drama. Her¬
Zola aber war seine große Enttäuschung, Paris seine
wesentliche Wende: Bahr wurde Impressionist und ist es, mann Bahr werden wir weiter lieben seines bezwingenden
Spieler= und Künstlertums wegen, über den Wiener Im¬
welche Wandlungen er später auch noch durchgemacht hat,
pressionismus als solchen aber wird die junge Gene¬
bis zu seinem Übertritt zum Katholizismus geblieben. Zu
ration hinwegschreiten zur wertgebundenen, wesenhaften
seiner leichten, spielerischen, impressionistischen Kunstauf¬
fassung gehörte es vielleicht sogar, daß er sich so oft Kunst — und Hermann Bahr wird fördernd und beratend
mit ihr sein. Er arbeitet heute, im stillen, im kleinen
wandelte. Hermann Bahr schrieb einmal: „Das einzige
Münchener Kreise — Hans Carossa, Josef Magnus Wehner
Gebot, in dem sich alle Ethik zusammenfaßt, lautet: modern
zu sein. Aber nicht bloß einmal modern zu sein, sondern und Gertrud von le Fort sind seine Vertrauten — mit an
der geistigen Wende unserer Tage, die im Asthetischen ist:
immer modern zu bleiben, und das heißt, weil die Beschaf¬
fenheit jenes Korrelats unablässig wechselt, zu jeder Zeit eine Wende zur metaphysikgebundenen Kunst.
Walter Ferber.
revolutionär zu sein“. Das ist liberaler Relativismus, dem
Fortschritt alles ist.
Es gibt eine Reihe programmatischer, interpretierender
und kritisierender Schriften von Hermann Bahr, in denen
sich die sehr bewegte Entwicklung der modernen Literatur¬
strömungen widerspiegelt. Aber so oft Bahr sich auch ge¬
wandelt hat, er blieb im Grunde immer er selbst: der
typische Vertreter des Wiener Impressionismus,
dem er, neben Schnitzler und Hofmannsthal, die Form
gab. Jene feine, beschwingte, französische, an Verlaine und
Baudelaire gemahnende und doch wesenhaft wienerische
Form, die uns aus Milde und Marmorglätte Hofmanns
thalscher Verse, aus Anmut, Leichtigkeit und leider, müder
Dekadenz Schnitzlerscher Dichtung bekannt ist. Das
Rein=Spielerische, Asthetisch=Leichte lag Hermann Bahr. In
seinem besten Lustspiel, dem „Konzert", geht es um ein
immer wiederkehrendes Thema der impressionistischen Dra¬