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I. Narrative Norks


box 1/1
1. Anerika
„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Iinternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZELLE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
BOHEMIA, PRAG
4. DEZ. 1937
Amerika.
Von Arthur Schuihler.
In einem „Die kleine Komödi
betitelten, reizend ausgestatteten Buch sind
eben die gesammelten erzählenden Arbei
Arthur Schnitzlers aus seinen ersten Schaffen
jahren bei S. Fischer erschienen, kleine Novel¬
len und Studien aus den neunz.ger Jahren.
Unter diesen Versüchen finden sich bereits
Arbeiten, die de# spiteren Meister der Erzäh¬
lung und tiefgründigen Psychologen ahnen und
erkennen lassen Wir veröffentlichen hier die
folgende Skizze, die in dem Buch an erster
Stelle steht.
Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß au
den neuen Weltteil
Der graue Herbstmorgen überschattet Meer
und Land; noch schwankt alles unter mir; noch
immer fühle ich den unruhigen Gang der
Wogen. Aus dem Nebel erhebt sich die Stadt
... Neben mir, mit offenen Augen, lebendig,
hastet die Menge. Nicht das Fremde empfinden
sie nur; nur das Neue. Ich höre, wie der oder
jener vor sich hin flüstert: Amevika — als wenn
er sichs nur recht einprägen wollte, daß er jetzt
wirklich hier sei, so weit! ...
Ich stehe allein am Ufer. Nicht an das neue
Amerika denk ich, von dem ich das Glück zu for¬
dern habe, das mir die Heimat schuldig geblieben
ich denke an ein anderes.
Ich sehe jenes kleine Zimmer, so deutlich
sehe ich es, als hätte ich es gestern verlassen nicht
vor so vielen Jaycen. Auf dem Tisch die Lampe
mit dem grünen Schirm. der gestickte Lehnsessel
in der Ecke. Kupferstiche hängen an der Wand:
die Biloer verschwimmen im Schatten. Anna ist
bei mir. Sie liegt mir zu Füßen, den Lockenkopf
an meine Knie gelehnt; ich muß mich niederbeu¬
gen, um in ihre Augen zu sehen.
Wir haben aufgehört zu plaudern; der
Abend schreitet weiter, und stille ists im Gemach
Draußen beginnt es zu regnen, wir hören die
Tropfen an die Fensterscheiben schlagen, lang¬
sam, schwer. Sie lächelt, und ich beuge mich zu
ihrem Munde. Ich küsse ihre Lippen, ihre Süirn,
ihre Augen, die sie geschlossen hat. Meine Finger
spielen mit den feinen, goldenen Haaren, die sich
hinter ihrem Ohre kräuseln. Ich schiebe sie zu¬
rück und küsse sie auf diese süße, weiße Hautstelle
hinter dem Ohr. Sie schaut wieder auf und lacht.
is, wie erstaunt. Ich halte
„Was Neues,“ flüster
meine Lippen fest hinter das Ohr gepreßt. Dann
age ich lächelnd: „Ja, was Neues haben wir
entdeckt!“ Sie lacht auf, und wie ein Kind fröhlich
ruft sie aus. „Amerital“
Wie drollig war das damals! So toll und
dumm! Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie es
zu mir aufschaute mit den Schelmenaugen, und
wie von ihren roten Lippen der Ruf erschallie:
„Amerika!“ Wie haben wir damals gelacht, und
wie hat mich der Duft berauscht, der aus ihren
Locken heraus über unser Amerika strömte ...
Und bei dieser großartigen Benennung blieb
es auch. Zuerst riefen wir es immer aus, denn
von den unzähligen Küssen einer sich hinters Ohr
verirrte; dann flüsterten wir es — dann dachten
wir es uns nur mehr; aber immer kam es zum
Bewußtsein.
Eine Fülle von Erinnerungen steigt in mir
auf. Wie wir einmal auf einer Anschlagsäule ein
großes Schiff abgebildet sahen und, nähertretend,
lasen: „Ab Liverpool= An New York — Ab
Bremen — An New York“ ... Wir lachten auf.
mitten auf der Straße, und sie behauptete ganz
laut, während Leute herumstanden: „Du, wir
reisen noch heute nach Amerika!“ Die Leute schau¬
ten sie ganz verwundert au; besonders ein junger
Mann mit einem blonden Schnurrbart, der nuch
dazu lächelte. Mich ärgerte das sehr, und
dachte: Ja, der möchte wohl mitreisen...
Dann saßen ### #mal in T#ater, ich weiß
nicht mehr, bei welchem Stück,
#gend¬
einer auf der Bühne von Kolum#s
ein Stück in Jamben, und ich entsinne mich
Verses: „— und da Kolumbus auf die Brücke
trat... Anna stieß mit ihrem Arm leicht an
den meinen; ich sah sie an und verstand ihren
geringschätzigen Blick. Der arme Kolumbus...
als wenn der das wahre Amerika entdeckt hätte!
Als wir nach dem Theater in einem Weinhause
saßen, da sprachen wir viel von dem guten
Manne, der sich so viel eingebildet hatte auf sein
armseliges Amerika. Eigentlich bedauerten wir
ihn. Ich konnte mir ihn lange Zeit hindurch nicht
anders vorstellen, als mit trauervollem Blicke an
der Küste seines neuen Weltteiles stehend, sonder¬
barerweise mit einem Zylinder und einem ganz
modernen Ueberzieher, und enttäuscht den Kopf
schüttelnd. Einmal zeichneten wir ihn gemein¬
schaftlich auf der Marmorplatte eines Kaffee¬
haustisches und fanden immer neue Details. Sie
bestand darauf, daß er eine Zigarre rauchen
müsse; außerdem trug der große Entdecker auf
unserem Gemälde einen Regenschirm, und sein
Zylinder war eingedrückt — naturlich — wegen
der Mectterer. So wurde Kolumbus für uns die
humoristische Figur der ganzen Weltgeschichte.
Wie toll! Wie dumm!...
Und nun stehe ich mitten in der großen, kalten
Stadt. Ich bin in dem falschen Amerika und
träume von meinem süßen, duftenden Amerika da
drüben ... Und wie lange das schon her ist! Viele,
viele Jahre. Ein Schmerz ein Wahnsinn kommt
loren ist. Daß ich nicht einmal weiß, wo eine
Kunde von mir, wo ein Brief sie treffen könnte
— daß ich nichts, gar nichts mehr von ihr weiß.
Weiter hinein in die Stadt führt mich mein
Weg, und mein Gepäckträger folgt mir. Ich bleibe
einen Augenblick stehen, schließe die Augen, und
durch ein seltsames trügerisches Spiel der Sinne
umfängt mich derselbe Duft, wie er an jenem
Abend von Annas Locken über mich wehte, da
vir Amerika entdeckten ...