Faksimile

Text

d
36. Flucht
Finsternis
box 6/3
Fruene in die Pnsel
NOESERVERG
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11.
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Danztger Nuete Nachrichten
vom:
10.1931
S
war in der Inflationszeit, so ungeheures Aufsehen! Schnitzlers letzien Werken. So, aus dem tiefen
erregte und die Zensur beschäftigte, der den Sexual= Klaffen zwischen Phantasie und Realität, kam er
Arthur Schnitzler ...
genuß zum Zentrum einer ganzen Dramenreihe zu einer seiner reifsten Dichtungen, zu der Ich= v
... und sein hinterlassenes Werk: „Flucht in die
machen konnte; da werden von den handelnden Novelle „Fräulein Else“, in der sich erträumte
Finsternis.“
Menschen Leidenschaften gedichtet, an die sie selbst Erotik mit der krassen Forderung des Augenblicks
streitet; die ihren allergrößten Erfolg aber durch ein
Nach Hugo von Hofmannsthal: Arthur Schnitz¬
technisches Mittel dieser neuen Zeit erzielte, von
r. Zwei Repräsentanten einer Kultur sind da¬
der die Wiener Romantiker nichts wissen wollten: I
hingegangen, die nicht wieder aufleben wird, weil
durch die Verfilmung mit Elisabeth Bergner.
ihr der Nährboden entzogen wurde: das alte Wien.
Ja, wir sind grausam erweckt worden, und als!
Weil ihr die Atmosphäre mangelt, in der sie ge¬
gum das Jahr 1910 die ersten Expressionisten den
deihen konnten: die selbstzufriedene Windstille der
kommenden Weltkrieg mit roten Brandschwaden em
Vorkriegszeit, in der die eleganten Sonderlinge
Horizont verkündeten, war die Wiener Dekadeneer
wurden, die Grübler, Sinnierer und — Dekadenten.
eigentlich erledigt. Sie hat weiter gelebt, aber
Das schönste Drama Schnitzlers heißt „Liebelei“ —
Schnitzler versuchte, sich auf die sozial beherrschteg
nicht „Liebe". Liebe, das wäre ja: große Leidenschaft;
Gegenwart umzustellen, indem er den schönen Ro¬4
aber Liebelei ist das Unverbindliche, das Nicht=Ver¬
man „Therese“ schrieb, das Schicksal eines jungen
pflichtende, das Spielen mit der Liebe. Und:
Mädchens „aus gutem Hause“, dem der Weg und
„Wir spielen immer; wer es weiß, ist klug“, heißt
das Weh alles Fleisches nicht erspart werden.
ein Vers Schnitzlers.
Nun ist vor wenigen Tagen die letzte Schnitzler
Sie waren alle einmal symptematische Gestalten:
Novelle erschienen: „Flucht in
eFinster¬
Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und der
nis.“ Man könnte symbolisch deuten: die Flucht
dritte in dieser Reihe: Hermann Bahr, der uns das
vor der harten Zeit. Flucht in den Tod. Noch ein¬
wundervoll verspielte „Konzert“ geschrieben hat. Sie
mal faßt Schnitzler sich in diesem kleinen Buch
zu¬
bewiesen, wie weit sich die Dichtung von dem trüben
sammen, indem er alle seine Vorzüge offenbart, die
und grauen Naturalismus entfernt hatte, der nichts
Kunst der Seelenanalyse, aus der am Ende die
wollte, als die unerbittliche und harte Wirklichkeit
Synthese wird. Es ist das Buch — man kann es
aufzeigen. Wirklichkeit? Das war diesen Dichtern
ein böses Wort. Sie liebten es, zu tändeln, dem nicht glavben, da wird die Leidenschaft zu einer heute sagen — eines, der von der Welt Abschiel
nimmt. Es ist auch ein Buch, das gleichsam
flüchtigen Rausch des Augenblicks nachzuhängen, sich Episode erniedrigt: „Wir spielen immer; wer es
Abrechnung mit der Vergangenheit vornimmt,
und ihre Stimmungen zu zergliedern. Sie analy=weiß, ist klug.“
Weil wir immer spielen, halten wir uns nicht sich und uns fragt, wie weit die „fixe Idee“ übe
sierten. Sie trieben — lange bevor Sigmund Freud
an die Damen der „großen Welt“; wir gehen in die die gesunde Vernunft herrschen könne, das Wirklich¬
zu sprechen begann — literarische Psychoanalyse, die
Vorstadt und finden dort das „süße Mädel“, das keit und Spiel, Traum und Tag ineinander über¬
den Urgrund aller Erlebnisse irgendwo im Unter¬
mit sich spielen läßt, das man mit allen romantischen gehen läßt, um die letzte Lösung im Tode zu finden.
bewußtsein aufspürt; sie gewannen also Erkennt¬
Im Tode: das ist nun sehr bedeutsam geworden.
Ornamenten umkleiden kann. Aber es gibt doch
nisse, die von der Wissenschaft später nur bestätigt
Aber das Werk Schnitzlers — lebt es nicht mehr?
zu werden brauchen — von dieser Wissenschaft, die einige „amtliche Instanzen“, die dem spielerischen
Der Verlag S. Fischer hat es voraussehend lebendig
Leben ein Ende machen, als da sind Behörden und
gleichfalls auf Wiener Boden gedieh.
Militär, die grausam in eine verspielte Träumerei erhalten wollen, indem er noch kürzlich die besten
Soiche Gewinne legte Schnitzler in seinen Ein¬
hineinplatzen können. Aus solchen Disharmonien Novellen in einem billigen Band herausges. Man
aktern und Novellen nieder, er verdichtete sie, und
können literarisch köstliche Dinge erstehen, Schnitz= darf auch annehmen, daß dieser Band viele Käufer
sie gewannen Gestalt. Da ist der junge Dichter
lers „Spiel im Morgengrauen“ — eine meisterhaft findet. Zwar ist die Alt=Wiener Zeit tot, aber die
„Anatol“, der mit seiner Schwermut kokettiert, der
wird immer die Menschen
mit der Liebe und den Frauen spielt —: Liebelei. erzählte Novelle — oder, ganz freudianisch zwischen Träumer leben. Es
Da ist der Einakterzyklus „Reigen“, der einmal, es Tag und Traum, die „Traumnovelle“, eins von geben, die an dem Widerstreit zwischen Tag und