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wenn man überlegt, daß Schnitzler als Arzt begonnen hat.
Daß er Zeit seines Lebens auch als Dichter diese ärztliche
Herkunft nie verleugnen kann, immer Diagnostiker,
Psychologe blieb. Und dieser Umstand macht seine Dich¬
tung noch wertvoller: weil man wohl behaupten kann,
daß seine Gestalten, ihr äußeres, aber mehr noch ihr
inneres Leben, zwar von dichtevischer Phantasie umrahmt,
aber doch nicht völlig von ihr erfunden sind. Denn ein
Roman, eine Novelle muß heute, falls nicht nur Unter¬
haltungszwecke verfolgt sind, bildend sein und darum
lebenswahr und wissenschaftlich fundiert, sie muß eine
Wissensquelle darstellen. Das wird bei Schnitzler garan¬
tiert durch seine Herkunft. Sie macht es für ihn zur
Notwendigkeit, sich mit der menschlichen Seele nicht nur
vom Standpunkte der Dichtung, sondern auch der Wissen¬
schaft zu beschäftigen.
Seine Entwicklung ist in dieser Hinsicht der Tschechows
gleich: beide kommen vom ärztlichen Beruf, für beide
bildet die Welt „das weite Land der Seele". Immer
handelt es sich bei ihnen um Aufdeckung, Erklärung
innerster menschlicher Zusammenhänge und Regungen.
Specht formuliert es dahin: „Immer wieder Ausblicke —
auch in scheinbar nichtigen Stofflichkeiten — ins Geistige,
ins Ewigmenschliche, ins Ewigtierische.“
So wird aber erklärlich, warum für Schnitzler und
Tschechow — und in gewissem Sinne auch für Maupassant,
der mit ihnen zwar nicht Herkunft, aber Ziel gemeinsam
hat — die Form der Novelle naturgemäßer war. Die
feingezeichneten Bilder, die sie entwarfen, vertragen keine
großen Flächen. Großangelegte Weltbilder dürfen auf
1000 Seiten gemalt werden: Seelenporträts, in denen
jeder kleinste Charakterzug mit gleicher Deutlichkeit her¬
vorgezaubert werden soll, verlieren auf langen Wänden
den Zusammenhang, stören die Einheitlichkeit des
Ausdrucks.
Damit ist der einzige Vorwurf ausgesprochen, den man
Schnitzler wegen seines neuen Romans machen kann. Die
400 Seiten, auf denen das Schicksal und die Entwicklung
seiner Heldin dargelegt wird, ermüden sicherlich ein wenig.
Manches in diesem Buche wäre in kürzerer Fassung von
größerer Eindruckskraft gewesen. Und dennoch: wie diese
Frau triebhaft ihren ersten Fehler begeht, wie sie zu über¬
winden versucht und ihr inneres Leben von aller Erotik
zu trennen bemüht ist, wie sie trotz alledem immer irgend¬
wie rein bleibt; wie ihr Lebensweg immer hoffnungsloser
und einsamer wird und sie dennoch nie den Mut und die
Lebenskraft verliert, weiterarbeitet, vorwärts zu schreiten
versucht, durchaus ohne Leichtsinn, eher zu stolz und zu
schwer; wie schließlich alles für sie zur Enttänschung wird,
ihre Liebe zu ihren Schülerinnen, zu den Männern, zu
ihrem eigenen Kinde: das alles ist wundervoll gesehen, noch
herrlicher dargestellt. Es ist in ihr so ein vergebliches
Ringen nach Glück und Befriedigung, dem sich die Welt, die
Konvention und nicht zuletzt ihr eigenstes Wesen widersetzt.
Es ist ein resignierter, geradezu verklärter Ernst in dieser
Frau, etwas ewig Jungfräuliches, und ihr Daseinskampf
zeigt am Ende etwas durchaus Edles, Duldsames, das sie
freispricht.
Mehr als in anderen Schnitzlerschen Werken werden
soziale Probleme gestreift, tendenzlos, sachlich, objektiv. Und
das Milien, das Vorkriegs=Wien, hat etwas durchaus
Heutiges; es ist wenig von der vorgeworfenen Romantik des
„süßen Mädels“ in diesem Buche. Vor allem ist dieser
Roman echt, glaubhaft in jeder Gestalt, die in ihm eine
Rolle zu spielen hat. Und er ist wichtig zur Erkenntnis der
heutigen Frauenpsyche, die mehr denn je wesentlichstes
modernes Problem wurde. Zum Problem der verselb¬
ständigten Frau von heute, die in jeder, auch in erotischer
Beziehung zur Freiheit gelangt ist, muß dieses Buch ein
bedeutungsvoller Beitrag sein.
Hanns Herrland.
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WARTHUR SCHMITZLER:
„THERESE“. CHRONIK
EINES FRAUENLEBENS.
S. Fischer-Verlag, Berlin.
Schnitzler hat schon in seiner psycho¬
analytischen Studie „Fräulein Eise“ den
Versuch gemacht, ein Frauenleben rein be¬
obachtend zu verfolgen und in seinen ih“.
zwangsläuig erscheinenden Phasen abrolle
zu lassen.) Das, größere-Buch mit anderem
Mädchennamen' ist im Grunde genommen
ähnlich. Nur, daß sich hier auf ein Leben
bezicht, was damals nur die Wochen eines
Sommerfrischenspiels umspannte. Nun kann
solche halbwissenschaftliche Chronikführung
ja kaum ein Roman sein. Aber sie gibt sich
äußerlich so. Dafür ist aber der Ablauf der
Geschehnisse zu sehr Tatsachenbericht,
„Material“, als daß man gepackt oder gar
mitgerissen werden könnte. Soweit ist das
Buch mißglückt. Als Bericht und Analyse
eines Arztes mag es. gelten. — Die Tochter
eines höheren Offiziers verliebt sich, gibt
sich dem, jenem. Flicht aus der Misere des
Elternhauses, wird Erzieherin in Wiener
Familien, erlebt dies und das mit Männern
jeder Art. (Vielleicht etwas reichlich, aber
das mag im Naturell liegen, von dem auch
wieder nuf berichtet wird, ohne daß man
eigentlich zu den Seelenregungen selbst vor¬
zudringen vermag.) Eine Zeitlang folgt man
mit mäßigem Anteil. dann wird man peinlich
und immer peinlicher berührt von der Fülle
kleinlicher Geschehnisse, die immer und
immer wieder als Umrahmung der Lebens¬
jahre vorgetragen werden, die dieses un¬
glückliche Mädchen in Dutzenden von Stel¬
lungen zubringt. Nichts bleibt erspart. Jede
Familie. Mann und Welb und soundsoviel
Kinder, werden sorgfältig vorgetragen. Jede
Sommerreise. Und jede neue Qual, die
Therese mit ihrem verheimlichten unche¬
lichen Kinde hat. Hätte das Buch weniger
#n, es würde weniger verwirren und
Echen. Man würde dann auch ein
#eres Miterleben und gesteigertes Mit¬
# mit den letzten Lebensjahren der
nden gewinnen, die als armselige
chlehrerin von ihrem verkommenen
un beraubt und ermordet wird. Hier allein
ein romanartiges. „literarisches“ M v: Der,
dessen Kommen sie nicht wünscht dessen
Tod sie in ihrer „schweren Stund. erflehte,
nimmt ihr das Leben. Also bei aller analy¬
tisch-Chronologischer Darstellung doch so
eine Art „Moral“. Was dem Schluß eine
— nicht unangenehm empfundene — Disso¬
nanz gibt.