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31. Fraeulein Bise
assemit uur.
Vorwärts, Berlin
Der verhinderte dichter.
Von Else Kolliner.
Arthur Schnitzler hat vor kurzem eine neue Novelle „Fräulein
Else“ veröffentlicht. Diese Novelle ist eine vollkommen feelische
Photographie, hinter der wie auf einer medialen Platte als zweite
Gestalt die Züge des verhinderten Dichters sichtbar werden.
Arthur Schnitzler hat sich ein Leben lang die bürgerliche, viel¬
mehr die Wiener südisch=bürgerliche Welt, seine Welt und die an
hrem Rande lockenden Abenteuer vorgenommen. Er litt an ihr, er
rebellierte gegen sie, aber er blieb in ihr stecken. Er bekämpft den
Salon mit der Mentalität des Salons — Salon als Atmosphäre, die
nich das Ordinationszimmer der berühmten Aerzte, die Caféhäuser,
die freie Natur parfümiert. Vielleicht erfüllte sich damit der Fluch
eines Erfolges, denn hier fand Schnitzler das Publikum, das jede
leifeste im Dialog versenkte Andeutung verstand, das Publikum, das
ihm immer wieder Modell saß. Selbst seinen Aristokraten merkt man
den Verkehr mit den gebildeten Juden an. Diese Gesellschaft, also
anscheinend ohne Grenzen in andere Schichten übergehend, in die
große Welt, in den Bezirk des kleinen Mannes, war in allem
Dynamischen ganz eng. Es gab keine starken, keine ungebrochenen
Impulse, keine unbürgerlich groß:, nur eine antibürgerliche, an ihre
Antithese gebundene Leidenschaft. Da Schnitzler an dieser Welt litt
und doch den Weg ins Freie nicht fand, blieb ihm nur das Aus¬
weichen in eine schmerzliche Ironie — Rationalisierung und ihre
Warum sich das Künstlerische, das Dichterische, die menschliche
Feinheit in Schnitzler nicht bis zur reinen Dichtung steigerte, in seinen
Theaterstücken nicht und nicht in seiner Epik, wird deutlich, wenn
man ihn neben einem anderen Oesterreicher, neben Stifter sieht.
Stifter brachte nicht wie Schnitzler das Typische einer Gesellschaft
# dem ihr eigenen Maß an Menschlichkeit in Konflikt, sondern
aus einer wunderbar gesammelten Tiefe drang der menschliche Ge¬
halt in typische Erscheinungsformen. Der kleinbürgerlich lebende
Stifter hat sein inneres Bild zu Gestalten der verschiedensten sozialen,
nationalen, geographischen Lebensflächen verdichten
zeitlichen,
konnen. Bei Schnitzler würde jeder Uebertritt über die Grenzen
seiner Welt aks Kostümierung empfunden werden. Stifiers Menschen
können aus der Natur, in die sie gebettet sind, nicht herausgelöst
werden. Sie wachsen fast aus ihr zusammen. Bei Schnitzler ist die
Umgebung Literatur und jeden Augenblick gegen eine andere Vedute
des Salons auswechselbar.
Schnitzler kannte noch die Generation, von der authentische
Aussprüche wie: Liebesheiraten sind gegen die Natur, sich in der
Uieberlieferung erhalten haben. Diese Generation bestiminte auch
noch das Maß der Auflehnung gegen sich selbst. Was man damals
als künstlerische Lösung der Atmosphärenspannung empfand, weil
diese Gesellschaft das „Geistreiche“ züchtete, um rebellische Kraft zu
zerweichen, war undichterisch, weil es nur negierte und keine eigene
tarke Welt entgegensetzte: Wenn Schnitzler Menschen und Situa¬
tionen bildete, wurden sie nicht auf das überzeitlich Gültige bezogen,
ondern das überzeitlich Gültige wurde ihnen angepaßt. Schnitzler
hat sich im Grunde nie entwickelt. Seine Probleme sind nie tiefer,
nie aufwühlender geworden, er hat sie nur varüiert und kombiniert.
Nie hat er sich von der sentimental=sinnlichen Erotik befreien können.
Eine gehaltarme Zeit, eine gehaltarme Schicht.
Auf den ersten Blick könnte man glauben, Schnitzler habe, wenig
hrgeizig, in „Fräulein Else“ den „Leutnant Gustel“ ein Pendant
in derselben Technik geben wollen. Auch in „Fräulein Else“ muß
man den Faden der Aktion, den Konflikt aus der Aufzeichwing des
Denkprozesses rekonstruieren, auch hier handelt es sich um eine
Handlung gegen den Ehrenkodex, diesmal gegen den weiblichen.
Aber „Leutnant Gustel“ steht künstlerisch viel höher, gerade weil die
Technik nicht zu der lückenlosen Totalität der Wiedergabe entwickelt
ist und der Stoff dem allgemein Menschlichen näher kommt.
„Fräulein Else“ ist der Typus der Wiener Jüdin, gegen die der
Lokalantisemitismus die Waffen streckt. Die physischen Unterschiede
sind ausgeglichen, man hat von der gemeinsamen guten Erziehung
wahrscheinlich noch mehr profitiert als die arische Altersgenossin,
man treibt Sport und gibt sich wie eine kleine Königin. Zu diesem
Typus, dem Typus einer abgelaufenen Zeit (Schnitzler datiert die
Erzählung auch 30 Jahre zurück) gehört die Ueberbetonung der Un¬
nahbarkeit und des eigenen Wertes, das Entzünden der Wünsche
und die eigene Kälte, die in lichten Augenblicken ihre Rigidität feind¬
eiig betrachtet, ohne ihr doch entrinnen zu können.
Fräulein Else also mit der unterminierten Psyche wird von
ihrer Mutter in einem Expreßbrief mitgeteilt, daß ihr sehr be¬
wunderter Vater Mündelgelder veruntreut hat. Es bleibt, um ihn
vor dem Zuchthaus zu bewahren, nichts mehr übrig, als Eises Ver¬
mittlung bei einem Freund des Hauses, der den Sommer im selben
Hotel genießt wie Else und ihre Tante. Er ist bereit, die Summe
rechtzeitig abzusenden, wenn e das Mädchen unbekleidet sehen darf.
In verzweifeltem Trotz wäh sie den vollbesetzten Musiksaal als
Szene und trinä im ersten Augenblick des Alleinseins das vorbereitete
Veronal.
Dieser Stoff wäre außerhalb des kleinen Kreises, in dem er sich
abspiell, so kaum denkbar. Es ist die Mentalität einer absterbenden,
vom zentralen Kräftepunkt weit entfernten Gesellschaftszelle, nicht
erschütternd, weil jedes Licht einer Erlösung in das Allgemein¬
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Stinnes jun.: „Die verfluchte Stabilisierung!“
menschliche fehlt, nur quälend, nur drückend. Das „Sichselbst¬
bewahren“ wird ein Trieb von so ungeheuerlicher Uebertreibung,
daß er in sein Gegenteil umschlägt. Die gesellschaftliche Ueberlegen¬
heit der vielbegehrten jungen Dame bricht zusammen, weil sie keine
menschliche Ueberlegenheit ist.
Man könnte die Technik dieser Gehirnphotographie neu nennen
weil ein so lückenloses Nacheinander der Gedanken mit allen letzten
Abirrungen, mit dem Durchschimmern der unbewußten Regungen
noch nicht dagewesen ist. Es ist die Technik der psychoanalytischen,
reien Assoziation auf Grund der Freudschen Erkenntnisse. Aber
Schnitzlers musischer Takt trägt die wissenschaftlichen Forschungs¬
resultate nie dick auf. Trotzdem ist diese wissenschaftlich hochein¬
schätzbare Technik, se sehr sie sich mit dem ununterbrochenen Ablauf
deckt, die Spannung in kurzen gläazend gefügten Sätzen immer
ester und fester anzuziehen weiß, doch nur eine literatenhafte und
keine dichterische Technik. Ein physiologisch=epischer Sketsch, nicht
weil der Stoff kraß, sondern weil dieser krasse Stoff nicht dichterisch
gewendet ist. Die Psychologie entwickelt wie an einer Kette Glied
um Glied. Die dichterische Gestaltung bestrahlt aus einem seelischen
Brennpunkt die inneren Vergänge, sie arbeitet plastisch und nicht
linear. Auch die ungesunde Ichbetontheit könnte Brennpunkt sein,
wenn sie mit der gesunden Welt zusammenstoßen, gerettet oder an
ihr untergehen würde. In Fräulein Else identifiziert sich die Form
nock, mit der Ichbetontheit. Der Denkbericht ist hier nicht bloß die
aktuelle Zuspitzung der Brief= und Tagebuchnovelle; er ist die letzte
Stufe der Egozentrizität, wo Welt, Leben und Dichtung aufhören,