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31. Fraeulein Else



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Artur Schnitzler als Vorleser. Der echteste
literarische Repräsentant des Wienertums der Vor¬
kriegszeit, Artur Schnitzler, erschien in einer Ver¬
anstaltung des „Verhandes deutscher Erzähler“ am
7. Februar im Plenarsitzungssaale des Reichstages
am Vortragsrult. Rein äußerlich entspricht der
Dichter vielleicht nicht ganz der Vorstellung, die
man sich von dem Schöpfer des „Anatol“ und des
Typus des „süßen Mädels“ macht; man hatte eher
den Eindruck eines wackeren gutbürgerlichen älieren
Hausarztes. Aber die Art, wie Schnitzter seine
bekannte Novelle „Leutnatt Gust!“ vorlas, ließ auch die
ganze Eigenart seiner Dichternatur erkennen. Da
lebt dieses etwas weiche, leicht sentimentale ge¬
mutvolle, auch in der Nähe der Tragik von einem
Schimmer von Heiterkeit und Leichtlebigkeit ver¬
klärte Volkstum, wie es bei unserem österreichi¬
schen Brudervolke charakteristisch ist. Durch seinen
unaufdringlichen Vortrag, in dem ein leicht humo¬
ristischer Unterton mitschwang, wußte Schnitzler
seine Zuhörer nachhaltig zu fesseln. — Vorher las
Elisabeth Bergner, eine Landsmännin und
Beistesverwandte dee Dichters, die ergreifende
tragische Novelle „Fräukein Eise“, eine ganz in¬
ime psychologische Stüdie, ungemein innig und
zurt, fast zu zart für den großen, dichtgefüllten
Zuhörerräum
M
am Montag, Berlin
7n
Artur Schnitzler=Abend im Reichstag
Die Dichterabende des Verbau¬
des Deutscher Erzähler wachsen sich
immer mehr zu einer Angelegenheit der „guten
bürgerlichen“ Gesellschaft aus, bei der „man“
sich zeigt. So konnte man auf dem Schnitzler¬
Abend im Plenarsaal des Reichstags alles, was
sich prominent nennt, mit Orden und Ehren¬
eichen sehen. Voran der Reichstagspräsident
Paul Löbe, der in Ermangelung des Roten
Adlerordens den schwarzrotgoldenen Reichs¬
bannersechser an den Smoking gesteckt hatte:
dann der Oberbürgermeister Böß mit zwo
Damen rechts und links in krachender Seide:
die berühmt=berüchtigte Wien=Berliner Schlo߬
küchenphilantrophin Eugenia Schwarz¬
wald, leider schon sehr „füllig“ und nicht
mehr dreißig und doch mit ohne Aermel. Na,
und noch hundert andere, die sich eigentlich bei
Kunst langweilen, aber nun mal berufshalber
dort sein müssen, wo eifrige Reporter die An¬
wesenheit von mittelgroßen Zeitgrößen fest¬
Sensation war, daß Elisabeth
stellen.
Bergner Schnitzlers „Frl. Else“ las. Sehr

leise (Stars können sich etwas leisten!) und
ja, nicht gut. Elisabeth Bergner ist halt immer
die „Heilige Johanna“ wenn sie auch manch¬
mal wer anders sein soll — und Frl. Else ist
ganz anders. Schnitzler selbst las „Leut¬
nant Gustl“ Nachher wurde geklatscht und
Blumen gespendet. Draußen war's bitter kalt
und während die Herrschaften in die Autos
stiegen, starrten aus dem Tiergarten ein paa
G=o.
Frierende und Hungernde herüber.
-Or.
Elisabeth Bergner liest Schnitzler.
Sonntag im Reichstag.
Wo sonst die münnermordenden Rede¬
schlachten der hohen Politik toben, füllte gestern
eine dünne Frauenstimme die vibrierende Stille
des ganzen großen Hauses: Im Plenarsaal des
Reichstages las (am 5. Dichterabend des Ver¬
andes Deutscher Erzähler) Elisabeth
lein Else“. Der Dichter selbst war anwesend
und wurde, von Georg Engel als geistiger
Repräsentant Wiens eingeführt, von einer er¬
lesenen Gesellschaft (darunter Präsident Löbe,
Staatssokretär Dr. Meißner, österreichischer
Gesandter Dr. Franck) herzlich begrüßt.
Das neunzehnjährige Fräulein Else ist schon
gefährdet durch ihr Blut, als das Schicksal an
sie herantritt. Mitten durch das frühreife
Gehirn geht der Riß und sprengt es entzwei,
als auch die Moral als Elternliebe von ihr die
kalte Preisgabe verlangt. Diese Gehirnschlacht
erfordert einen dramatischen Sprecher, keine
Epik, auch keine Lyrik. Es war nun die Prage,
ob die Schauspielerin Bergner, deren zwischen
Angst und Wissen brüchige Stimme für Else wie
geschaffen schien, der hier sehr großen Gefahr,
sich auf ihre erschütternd private Ausdruckskraft
zu beschränken, erliegen würde oder nicht.
Sie begann, wie sie gekleidet war, ganz in
Weiß. Das war nicht Fraulein Else. Zü wenig
gurrende Nexvosität, zu wenig Wienerische Hei߬
blütigkeit, zu wenig Labilität lag in dieser
Stimme einer fünfzehnjährigen, von vornherein
Hilflosen und Todgeweihten. Aber dann wuchs
die Bergner in den fiebrigen Wirbel hinein, ihre
Augen, ihre Hände fieberten mit. Je näher dem
Tode, desto herrlicher die Ausbrüche ihres inner¬
ten Wesens; wer könnte dieser Stimme wider¬
stehen. Der Beifall war rauschend.
Dann las Schnitzler, über dem schönen spitz¬
bärtigen Senatorenkopf ein wenig noch die müde
Locke Anatols, die Geschichte vom Leutnant Gustl,
das humoristische Gegengewicht zu „Fräulein
Else“, deren technisches Urbild sie ist.