Faksimile

Text

31.
Fraeulein Else
box 5/2
Kunst und Wissenst
Elisabeth=Bergner=Gastspiel
Komödie
Der Ruf Elisabeth Berguers, die dem Dres¬
dener Publirum im allgemeinen nur durch Ver¬
liner Theatervesprechungen und den Film be¬
kannt geworden ist, reichte hin, um am Sonntag
den Zuschauerraum der Komödie zu füllen. Der
ungewöhnliche Weg eines Gastspieles, den sie
wählte, wäre für manche andere darsteuende
Künstlerin ein Wagnis gewesen. Anfangs schien
es auch bei ihr der Fall zu sein, als sie Schnitz¬
lers kleine Novelle Fräulein Else zu lesen
begann; aber die Gesamtleistung fordert, von
kleinen Außerlichkeiten abgesehen, hohe An¬
erkennung. Ein Gastspiel gab sie, keine Re¬
zitationsprobe. Schlicht war ihre Art der Dar¬
stellung, so schlicht, daß man ihre künstlerische
Begabung vielleicht darin suchen muß. Schnitz¬
ler hat ihr in der kleinen Novelle die Aufgabe
gestellt, das Schicksal einer Mädchenseele aus
einer Fülle von Selbstbetrachtungen, verflochten
mit Dialogen im Schleier zartester Andeutungen,
in aller Schlichtheit zu entwickeln. Und sie löste
sie auch. Das Leben einer Welt voller Dishar¬
monie fand seinen Niederschlag in der Seele
dieses einen Menschen, der an sich zum Glück
geboren wäre; aber die Schönheit des blühenden
Menschenkindes zerrinnt unter der Hand eines
Schamlosen, der die unverschuldete Notlage des
Mädchens seiner Begierde dienstbar macht: Er
fordert, Fräulein Else ohne Hülle zu sehen, ehe
er sich bereit findet, ihren Vater durch ein be¬
trächtliches Darlehen vor strafrechtlicher Ver¬
folgung oder vor dem Selbstmord zu schützen.
Echt weiblich die Empfindungen, wie sie der
Dichter skizzenhaft festgehalten hat, echt weiblich
die Art, in der die Künstlerin die Schwingungen
der unglücklichen Seele wiedergab. Während die
bewegen, streift das Auge
Ereignisse das
die Nichtigkeiten des Alltages mit gleicher Kraft.
Dadurch, daß Elisabeth Bergner ohne alle
Theatralik, ohne Vernünftelei aus der Seele
der Unglücklichen las, erhöhte sich die tragische
Wirkung des Stückes. Jeder fühlte, daß es sich
nicht um einen erdichteten Menschen handelte,
der die Verfehlungen seiner Eltern wiedergut¬
zumachen hatte. Jeder fühlte, daß der freiwillige
Tod aus aller Menschlichkeit heraus gewählt
werden kann, wo die Vernunft nicht allein dir¬
tiert. Und Elisabeth Bergner ließ die Mädchen¬
seele in einer natürlichen Verklärung sterben.
Wie von einem Hauch getragen, verblaßten die
letzten Regungen, verklang das letzte Wort auf
ihren Lippen.
Adue rn
1 A
Leider trug das Organ der Künstlerin, die
mit der Raume unbekannt war, nicht alle Fein¬
heiten an das Ohr der Zuhörerschaft. Ihr erstes
Erscheinen in Dresden brachte ihr jedoch einen
ingewöhnlichen Erfolg, und sie verdiente ihn.
Hoffentlich haben wir bald einmal Gelegenheit,
sie als Darstellerin in einem größeren Rahmen
Bg.
schätzen zu lernen.