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Text

Beate
ihr Sohn
und
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28. 1 Al .
310 Mea Carl Busse: 88888884
vielen Männern begehrt, ihr Gefühl ver= halten, durch die Kühnheit des seelischen
wirrt sich, und als ein glühendes Bürschchen Problems interessiert, habe ich das Buch
Wort für Wort auch ein zweites Mal ge¬
von zwanzig Jahren leidenschaftgeschüttelt
lesen, habe ich jede Seite und jeden Satz
ihre Knie umklammert, gibt sie sich ihm ohne
dreimal umgedreht und bin doch der letzten
ernsthaften Widerstand hin — dem intimsten
Klarheit nicht teilhaftig geworden. In einer
Freund ihres Jungen!
Lauscherszene, die man bei dem aparten
Hier stutzt man zum erstenmal. Wie?
Schnitzler nicht zu finden erwartet, hört
fragt man sich, diese Frau, die bisher nicht
Frau Beate, wie sich ihr Geliebter und ein
nur untadelig gelebt, sondern eben noch die
gleichaltriger verdorbener Bub sehr eindeutig
Möglichkeit, jemals wieder einem Manne an¬
über sie unterhalten. Wie eine Woge schmut¬
zugehören, mit Widerwillen von sich gewiesen
zigen Wassers geht das über sie hin, in
hat, diese Frau, die eben noch in Hochmut
brennender Scham fühlt sie ihre Schmach,
und Ekel das Treiben jener Schauspielerin
sie glaubt nicht länger leben zu können und
verurteilte, sie krempelt sich von heut auf
will ihrem Sohn nur noch einen Abschieds¬
morgen so völlig um? Denn es handelt
kuß auf die Stirn drücken, um dann zu
sich nicht nur, wie man zuerst vermutet, um
verschwinden. Aber als sie bei ihm eintritt,
eine vorübergehende einmalige Gefühlsauf¬
merkt sie sofort, daß er alles weiß. Zwei
wallung, sondern um recht dauerhafte Liebes¬
Todgeweihte, die sich niemals wieder unter
freuden, ja, Frau Beate rechnet sicher da¬
Menschen zeigen können, fahren auf den
mit, daß sie nach diesem Jüngling noch viele
dunklen See hinaus, und Beate „küßt einen,
andere Liebhaber haben, daß sie in einer
den sie nie gekannt hatte und der ihr Gatte
eventuellen neuen Ehe den Mann selbstver¬
gewesen war, zum erstenmal“ zieht den
ständlich betrügen wird. Zwar ringt sie
Sohn und Geliebten an ihre Brust, bevor
selber die Hände über sich, doch an der Sache
die Wasser sich über ihnen schließen.
ändert das gar nichts. Schnitzler mochte gleich¬
Zwei Spalten würden nicht langen, um
falls fühlen, daß die rasche Wandlung eine
die Fragezeichen aufzunehmen, die hier ge¬
stärkere psychologische Motivierung erforderte.
löst sein wollen. Wie mehr oder minder
Wäre es sonst nicht geradezu unglaubwürdig,
alle Schnitzlerschen Helden ist Frau Beate
daß diese Dame ihrem ersten Gatten immer
eine von denen, die leichtsinnig handeln
die Treuegewahrt hat? Ja, sagt er, das konnte
und schwermütig denken. Vor fünfundzwanzig
auch nur geschehen, weil der Gatte ein be¬
Jahren hätte Hermann Bahr an ihr die
rühmter Schauspieler war und weil die Frau
Herrlichkeit der „neuen Psychologie“ demon¬
in seinen Armen die Geliebte all derer sein
striert, und es wird auch heute superkluge
konnte, die er spielte: die Geliebte Ri¬
Leute geben, die dem Wiener die Tiefe
chards III., Hamlets, Cyranos und all der üb¬
seiner Seelenanalyse bescheinigen. Uns an¬
rigen. Nur dies hatte ihr erlaubt, einen
deren dürfte es eher gehen wie der Dame
ehrbaren Lebensweg zu gehen und Seiten¬
selbst. Sie fragt sich nämlich fortwährend:
sprünge zu unterlassen. Das klingt etwas
Wohin gerate ich denn? Bin ich denn das
ausspintisiert und genügt nicht, um alle
noch, die so hanvelt? Und noch am letzten
unsere Zweifel niederzuschlagen. Aber wir
Tage hofft sie, daß endlich irgendwoher
wollen es uns gefallen lassen: da bleibt noch
eine Antwort auf all diese Rätsel kommen
immer (auf den ersten Blick) die Unwahr¬
müßte. Doch sie greift nur mit beiden Hän¬
scheinlichkeit, daß Frau Beate sich gerade
den in die Luft, „als wollten sie dort etwas
dem jungen Fritz hingibt, diesem halben
Zerflatterndes fassen". Nur vorsichtig ta¬
Kinde, dem Schulfreund ihres Buben. In
stend, etwa so, wie wir als Knaben die
irgendeiner Art beleidigt das unser Gefühl,
junge Eisdecke geprobt haben, tritt man auf
und erst später geht uns ein halbes Licht
die Brücken, die Schnitzler baut — feine
darüber auf, weshalb das geschieht, und
Brücken, geistreiche Brücken, aber sie hal¬
daß der peinliche Eindruck, den wir haben,
ten nicht. Das ist, bei Licht besehn, Spuk,
den Erzähler in seinen letzten Zielen nur
nicht Leben. Das ist ertiftelt, überspitzt,
unterstützt. Denn er geht nicht darauf aus,
gekünstelt, ist nur glänzend ausgedacht. Und
einen beliebigen Fehltritt der Mutter zu
die echte Realität fehlt diesem Werke wie
konstruieren und dadurch den Sohn von ihr
jedem andern, das seine Existenz letzten
zu trennen. Nein, er hat viel kühnere Ab¬
Endes nicht einem Schöpfungs=, sondern
sichten: es wittert, grob gesagt, um diese
yu einem Kombinationsakt verdankt.
Hingabe an den Jüngling etwas wie Blut¬
Auf minder schwankendem Grundy be¬
schande, und dadurch, nicht etwa deshalb,
ffindet sich der Fuß bei Otto von Leitzgeb,
weil die Heldin ein geltendes Sitten= und
obwohl auch er nach österreichische
Schicklichkeitsgesetz übertreten hat, wird der
und wieder zerbrechlich in einen unsicher
tragische Ausgang zur Notwendigkeit.
wogenden Stimmungsnebel hineinbaut. Das
Das ist der Schlüssel zu dieser Novelle,
Beste, was er gibt, ruht doch stark und schön
aber ich fürchte, selbst damit werden die
auf der Feste dieser Erde, und ein paar
meisten Leser noch immer ein wenig un¬
prächtige kleine Novellen werden wir ihm
sicher davor stehen. Haben sie unrecht?
immer hoch anrechnen. Sein neues Buch
Wohl kaum! Durch geistreiche und feine
„Das Hohelied“ (Berlin 1913, E. Flei¬
Züge, deren Ziel sich erst langsam entschleiert,
stets auf der Schwelle der Ahnung festge= schel & Co.) vereint sieben kleine Erzäh¬