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er die seelische Spannung seiner Rassegenossen mit empfindet, mit wieviel Wärme er
anklagt, verteidigt, verurteilt. Wenn erst die feinsten, vornehmsten und nachdenk¬
lichsten Geister unter den Juden selbst sich und den anderen sagen, hier liege in der
Tat ein Problem, dann ist dies Problem nicht mehr so verzweifelt. Und wenn es
wirklich jedem Denkenden und Fühlenden sich wieder neu in den Weg stellt und ihn
nicht entläßt bis er mit ihm gerungen hat, verhält es sich nicht mit vielen andern
Problemen genau so? Kommt nicht für jeden die Zeit, da ihm das vordem
Sicherste wankend, das Bestimmteste angezweifelt, das Geglaubteste fragwürdig wird?
Und sind diese Fragen, mit denen wir ringen, nicht wie jener Engel, den Jakob nicht
entließ, eh' er ihn segnete? Denn wenn sie uns wirklich nicht segnen wollen, wenn
an uns, die wir nicht lange genug gerungen haben, die wir, müde oder feige oder
kleinen Herzens, den Engel vor der Zeit entließen.
Dies läßt froheren Herzens auf die Entwicklung der österreichischen Schriftsteller
hoffen, daß sie nicht mehr den großen Fragen der Zeit wehleidig oder geckenhaft
ausweichen, sondern entschlossen zugreifen. Es ist ein neues Geschlecht herangereift,
und diese Neuen — das plötzliche Aufsteigen eines so starken Talentes wie Bartsch
beweist das — sind noch nicht alle zu Wort gekommen. Dem gegenüber mag mans
leichter verschmerzen, wenn der Dichter, der für das Reich jahrzehntelang das Oester¬
reichertum, zum mindesten einen guten und besten Teil davon, geradezu repräsen¬
tierte, nicht mehr ganz auf seiner Höhe steht. So gern sich der Leser der ersten Hälfte
des Romans von Rosegger gefangen gibt, die vom Leben im Dorf und von den
Bewohnern des Försterhauses behaglich und mit starker Stimmung berichtet, so be¬
befremdet liest er die weitere schlimm=romanhafte und kriminalistische Entwicklung
vom Mord an dem evangelischen Sendboten, vom Verdacht, der auf die unschuldigen
Försterbuben fällt, vom Selbstmorde des Försters, der Entdeckung des Täters und
der Auswanderung der Försterbuben nach Neuseeland. Hat Rosegger einen Stoff,
der ihn anfangs herzhaft freute, zögernd oder übereilt zu Ende geführt? Ist seine
liebe alte Hand unsicher geworden? Oder ist dieser Roman unter einem Zwange
entstanden, dem Zwange nämlich, das Buch des Jahres abzuliefern? Rosegger ist
eine der glänzendsten Erzählerbegabungen, die wir besitzen; und doch, wenn die Zu¬
kunft seine zahlreichen Bände einen nach dem andern in die Hand nehmen wird, um
einen davon in die Bibliothek der bleibenden Werke einzustellen, welchen wird sie
wählen? Vielleicht den Waldschulmeister. Vielleicht den Peter Mayr oder Jakob
den Letzten. Die Försterbuben nicht.
Peter Altenberg vertritt, einseitig und innerhalb seines kleinen Bezirkes be¬
deutend, die sentimentale Richtung des österreichischen Feuilletonstils: aus dem All¬
täglichsten um jeden Preis eine stimmungsvolle Skizze zu machen. Mit dem ver¬
mehrten Stoffandrang an die Zeitungen wurden diese Skizzen zugleich kürzer und
manierierter; mit der zunehmenden Konkurrenz journalistischer Begabungen näherten
sie sich dem Dichterischen, denn es gab viele flügellahme Schwäne neben den Gänsen
und Gänserichen unter dem Strich. Diese Gattung in die Sphäre reiner Empfindung
erhoben zu haben, ist Altenbergs Verdienst. Rührende Anekdoten, jedoch nicht des
Witzes, sondern des Gemütes. Vornehmheit wird nicht durch Anwanzen an Kava¬
liere gesucht, sondern ruht in der Zartheit und Höflichkeit des Herzens. Künstlerisch
voller Manier. Aber der Reichtum an innerlichen Erlebnissen bewahrt Altenberg
vor der Schablone, und er, der Kinder liebt wie kaum ein anderer, hat für Schicksal
und Alltag den reinen Blick des Kindes, nicht den lauernden des Reporters.
Ist Gustav Meyrink Oesterreicher? Sicher ist, daß er seine wirkungsvollsten
Einfälle jenseits der schwarzgelben Pfähle holt. Er ist vielleicht der einzige Meister
der literarischen Groteske. Seine exzentrischen Geschichten faszinieren. Er beherrscht