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in
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23. Der N
sie box 3/1
Literaten, Politiker, Musiker und wieder Juden
und Aristokraten — niemals kennen gelernt
haben, werden sich in diesem neuen Werke
Schnitzlers zurechtfinden können.
Freilich, der Held des Romans, ein kompo¬
nierender Aristokrat, der sich in ein „Bürger¬
mädel“ verliebt, es verführt, und der, als das
Kind der beiden tot zur Welt kommt, gleich¬
sam die innere Freiheit wiederfindet, ist ein
Dutzendtypus, wie wir ihm schon unzählige
Male begegnet sind. Aber die meisterliche Art,
wie Schnitzler ihn charakterisiert, die köstliche
„Lebendigkeit, wie er die Gesellschaft, in der
as Pärchen lebt, herausschält und selbst di###
inbedeutendste Männlein zu einer Vollfigur#ls
nacht, deren Schicksale wir mitfühlen können:
as ist das Unerhört=Künstlerische an diesem
Buche. Gegensätze platzen auf Gegensätze: der
musizierende Aristokrat, der trotz mancher Rasse¬
bedenken doch immer wieder an den intelli¬
91
genten schriftstellernden Juden und den ele¬
ganten Salons jüdischer Finanziers Gefallen spl
10
findet, dann der Jude wieder, der hier vor
dem Aristokraten brillieren will, der Zionist,
der enthusiastisch und ernst zugleich seine Idee
verficht, während die eigene Schwester Sozia¬
listin schwersten Kalibers ist, der Journalist,
der, vielleicht zum großen Dichter geboren, der
Alltagssorgen halber der Poesie entfremdet
wird, das hysterische Mädchen, das bei den
(„Jours“ seinen Träumen nachjagt, der Börsianer,
der Hofrat, der Reserveleutnant ... Lauter
Menschen, die den Weg ins Freie suchen und
die in einer Gesellschaft verkehren, in einer
*) Verlag S. Fischer, Berlin.
Gesellschaft sich austoben. Und so wie die
Gesellschaft ist, die Arthur Schnitzler zeichnet,
gibt es hundert in Wien, Hunderte, Tausende.
Mitten in dieser Atmosphäre verzärtelter und
erstarrter und leidenschaftlicher Gesellschafts¬
menschen baut Georg von Wergenthin, der kom¬
ponierende Held des Romans, seine große Liebe
zu Anna auf. Durch verstaubte, verschwiegene
Straßen wandern sie, von ihrem Glücke
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Ein Wiener Bildungsroman.die scheinbar
Worte hinüb
Der Weg ins Freie. Roman von Artur Schnitzler. Berlin,
Augen zuzwi
S. Fischers Verlag, 1908
Strebertum
Oft genug mußte sich Schnitzler vorwerfen lassen,
Derselbe Par
daß er nichts als erotische Geschichten zu erzählen verstehe.
Brandrede hä
Wie ein ewiger Jüngling, der mit seinen Weibergeschichten
Parlamentsko
nie fertig werden könne, ist er vielen erschienen. Nun hat
Charaktere,
er die Bildungsgeschichte eines Jünglings in der Zeit
können, am
seines Ueberganges zur reifen Männlichkeit erzählt, und
Antisemiten
wenn man auch nicht schlankweg mit allem einverstanden!
fortwährender
sein kann, was dieser Roman bietet, so enthält er doch
In andern, h
so viele gute Gedanken, so viele schöne Bilder, so viele frisch
Trotz, der
und unmittelbar aus dem Leben heraus gegriffene Gestalten,
treibt... Die
daß man den „Weg ins Freic“ als seine wertvollste
bietet Schnitz
Schöpfung auf erzählendem Gebiete bezeichnen muß.
analyse, die
Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Baron
Unbefangenhe
Georg Wergenthin; ein netter Mann von ungefähr fünf¬
wir an ihm
undzwanzig Jahren, aus guter Familie, wohlhabend, doch
Parteien.
nicht reich. Von seinem hochgebildeten Vater, einem Ge¬
sind ganz me
lehrten ohne Amt — er war Präsident der Botanischen
die Männer n
Gesellschaft — hat Georg eine sorgfältige Erziehung
die armen.
erhalten. Sein älterer Bruder Felician widmet sich dem
alten Doktor
diplomatischen Dienst, Georg hat Begabung für Musik.
Georg wegen
Mit einigen Liedern hat er schon gute Hoffnungen geweckt;
lichkeit gründ
er spielt gut Klavier, komponiert ein Quintett, plant eine

gezeichnet zu
Oper und befindet sich zu der Zeit, da wir ihn kennen
dichterischer 9
lernen, kurz nach dem Tode seines Vaters, in einem
Georg
Zustande innerer Gärung. Er muß nun doch datan
Mädchen zu
denken, einen brotbringenden Beruf zu ergreifen, nicht
sie liebt. Aber
bloß zu träumen und zu genießen, sondern auch zu
und ist ehesch
arbeiten. Auch sein sittliches Wesen ist noch lange nicht
Anna ist aber
gefestigi, er hat noch keine bestimmten Ueberzeugungen,
einer Ehe zu
er ist ein Werdender und Suchender. Seine Herkunft und
ausdrücklich v
liebenswürdige Persönlichkeit öffnen ihm alle Türen der
hat sie sich be
Gesellschaft, aber er bewegt sich mit Vorliebe in den
scheiden, ihren
Kreisen junger Schöngeister, Dichter, Schausp’ ler, Jour¬
heiratet zu we
netisten. Dadurch gerät er auch in jene jüdischen Familien,
Welt kommt,
dehen diese jungen Leute vielfach angehören. Die
enthoben, sein
Charakteristik dieser Jugend und solcher Familien füllt
auch eine au
die erste, größere Hälfte des Romans fast ausschließlich
einem kleinen
aus; die zweite Hälfte ist der breiten Schilderung des
seinem naive
Verhältnisses Georgs zur schönen Anna Rosner gewidmet,
Liebelei von
die er in diesen Kreisen kennen gelernt und in „interessanie
auf das Ver
Umstände“ versetzt hat.
„Weg ins
Jene erste Hälfte nun ist der weilaus merkwürdigete
demütigt und
Teil des Romans, und es ist nicht einzusehen, warum
wird sie im
man darüber, wie es schon geschehen ist, mit diplomatischem
lehrerin oder
Schweigen hinweggleiten soll. Charakteristisch für
Diesem
Schnitzler war immer seine Neigung, just von dorther seine
von der verfü
Stoffe zu holen, wo es galt, herrschenden Vorurteilen
Raum gewidn
oder auch Unsitten entgegenzutreten. Er ist keineswegs bloß
Schwäche sein
Erotiker, sondern auch Satiriker. Seiner Zeit will er
Roman Mode
immer einen Spiegel vorhalten. Von einem edlen Dichter
zuspinnen. Gi
in seinem Romane sagt er: „Ueber jene lügendumpfe Welt,
spiele voran,
in der erwachsene Menschen für reif, altgewordene für er¬
Handlung zu
fahren und Leute, die sich gegen kein geschriebenes Gesetz
glänzende
vergingen, als ehrlich, in der Freiheitsliebe, Humanitäts
und Patriotismus schlechtweg als Tugenden galten, auch Praxis nicht
wenn sie dem faulen Boden der Gedankenlosigkeit oder der solche Bücher
gestalten= und
Feigheit entsproßt waren, hatte Nürnberger grimmige
wenn ihm nic
Lichter angezündet.“ Dies gilt auch wohl von Schnitzlers
karge Form
eigenen Dichtungen; nur waren die Lichter, die er an¬
Nur eines n
gezündet, nicht immer „grimmig“. Sein Pathos — nach
die vielen Bil
Ibsens Vorbild das Pathos der Entrüstung — hat er
und in den
doch im Ausdruck gedämpft, mit Ironie, mit Humor, mit
ein schönes P
Sarkasmus. Mit diesem Pathos in allen Abstufungen hat
wäre es nur
er auch den vorliegenden Roman geschrieben, und er ver¬
Nie hat er sei
birgt es gern hinter der Sachlichkeit des Erzählers, der
scheinbar nur mitteilt, was seine Gestalten gesehen, getan, wie hier, wo
geurteilt, gefühlt haben. So schildert er die jüdische Ge¬
sellschaft in Wien nicht unmittelbar, sondern wie sie sein
junger Baron Georg Wergenthin empfindet, der sich vor¬
urteilsfrei in ihr bewegt und unbefangen über sie urteilt.
Ein höchst fruchtbarer Kunstgriff des Erzählers.