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23. Der Neg ins Freie
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schief und die Memoirenerfinderin sieht sich ge¬
nötigt, den Sinn ihrer Form, eben die unge¬
wertete Catsachengesamtheit im Stich zu lassen,
geschwind auszuscheiden, zurechtzustutzen, sich auf
das Konzentrierbare zu beschränken, kurz aus
den angeblichen Uemoiren wieder einen hand
lichen Roman herauszuschälen, ein umständliches
Verfahren, das von Anfang an hätte erspart
bleiben können, wenn dies fatale weibliche Um¬
die=Ecke=denken und Dekorationsdichten nicht der
einfachen Einsicht mit allerhand vagen Der
sprechungen in den Arm gefallen wäre. Don
solchen Mißgriffen brauchte man nicht erst weiter
zu reden, wenn nicht gerade in diesem Falle be¬
deutende Schönheiten und entzückende Einzel¬
heiten, wie etliche Szenen der alten Ninon de
L'Enclos, allerdings in einem noch unpersönlich
lauten, von C. F. Meper beeinflußten, unent¬
wickelten Stil vorgebracht, ein versprechendes,
a unzweifelhaftes Calent offenbarten, das
vorderhand noch im Dilettantismus schmachtet.
Die Romane von Dora Hohlfeld „Die arme
Josefa“ und „Im Freudensaal““ gehören vollends
zur Gattung weiblicher Handarbeiten, wie sie in
unserer weibischen und weichlichen, ganz und gar
effeminierten Literatur im übeln Sinn Epoche
macht. Ein unleugbares, freilich von Koßartigen
Driginalen, wie von Selma Tagerlöfs knappen
Bilderfolgen angeregtes, frauenzimmerliches Be¬
obachtungstalent stellt ein paar heimatliche Zu¬
stände und Cppen ganz erfreulich hin, um sie
mit unvermeidlicher gouvernantenhafter Senti
mentalität und Phantasie im Verlauf der Fabel
ins himmelsüchtige, rosenrote und veilchenblaue
zu verfärben, zu verzuckern, in romantisierte
Sprup=Leidenschafts=Sturmfluten zu stürzen, aber
zugleich mit barmherzigen Schwimmgürteln von
Charakter, Moral, Gefühl und ethisch=ästhetischer
Unzerreißbarkeit zu versehen, so daß sie sich
großartig wehmütig über Wasser halten.
Man nehme darauf als guten Magenbittern
ein nüchternes, bescheidenes, didaktisch gewolltes,
aber zugleich dichterisch gekonntes Buch wie D.
Freps „Schweizerdorf“*“ um den exakten
konstruktiven Verstand eines Schweizer Durch¬
chnittsautors zu würdigen, der in den gerade
weit genug gespannten Rahmen eines dörflichen
Kampfes zwischen Gewissensfreiheit= und Bindung
die tppischen Grundelemente einer Gemeinschaft ge¬
wissenhaft, mit soziologischer Sicherheit und Giltig¬
keit einzeichnet und völlig unpathetisch dabei den
natürlichen Heroismus sich entfalten läßt, der
gerade den unveränderlichen geistigen und sitt¬
ichen Gegenspielen der Gesellschaft eigen ist.
Zwei fast ganz in Dialog gepreßte Studien
von Heinrich Mann „Die Bösen““ enthalten
eine dialektisch grandiose, subjektive Rechtfertigung
Berlin, Schuster & Löffler 1908.
** Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
*** Inselverlag, Leipzig.
des schlechthin Unmenschlichen. Die beiden Fabeln
von barockem Schema, aber bezeichnender Wucht
und zwei Figuren, eine alte Sängerin, die von
ihrer Kunst, ein Renaissancetprann, der von seiner
Herrschaft zum Ungeheuer gemacht wird, sind
mit visionärer Schärfe und Tiefe wie auf die
Kupferplatte geätzt.
Robert Walser hat seinen „Geschwistern
Tanner“ rasch einen Roman „Der Gehilfe““
achgeschickt, der den gleichen Taugenichts dies¬
mals auf einen seiner vielen Dienstposten be¬
gleitet, wo er zwar ziemlich gut gehalten, aber
n eine verkommende Wirtschaft gesetzt ist. Der
Herr ist ein Reklameschweizer, wie Keller in den
Seidwplern, bitterer im „Salander“ sie geschildert,
er hat eine hübsche, ein bißchen gefallsüchtige,
ein bißchen launische, halb gutmütige, halb strenge,
halb schwache, halb dreiste Gemahlin, und der
Gehilfe steht nun drollig hilflos zwischen den
reditgeschäften, Wechselschwierigkeiten, Haus¬
angelegenheiten und Damensorgen, macht als
getreuer Unecht allen Schwindel mit und verliebt
ich in die schöne Prinzipalin, ohne ein Wort
davon zu sagen, doch deutlich, er muß, da der
Reklameingenieur kläglich zugrunde geht, ohne
Lohn wieder ins Elend seiner Freiheit hinaus
und die hohe Frau sagt ihm ein Lebewohl nicht
ganz abweisend, recht gefallsam, aber auch nicht
ganz keck und nicht ganz wehmütig, halb belustigt,
galb mütterlich; ist es zart, zärtlich oder gleich¬
ziltig gemeint? Der Reiz der „Geschwister Cauner“
bestand in der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse
uind der Antworten des Taugenichts auf seine
Schicksalsfragen. Hier, einem herausgegriffenen
Einzelzustande gegenüber ermattet die Kraft
dieser Außerung ein wenig, oder vielmehr, sie
überrascht nicht mehr, doch bleibt es gerade da
bemerkenswert, wie bei der völligen Willkür
Leute und Begebenheiten auf ein Schalksgemüt
wirken zu lassen, doch ein objektives Menschen¬
und Zustandsbild von feiner Klarheit heraus
kommt, freilich im Verhältnis zur übergroßen
Ausführlichkeit ang, dürftig und einförmig, aber
n der scheinbaren Zufälligkeit dieser Schlender¬
manier doch voll poetischer Energie und Methode.
Don Selma Lagerlöfs herrlichem Kinder
märchen „Die wunderbare Reise des kleinen
Niels Holgersson mit den Wildgänsen““ ist nun
Fortsetzung und Schluß erschienen, ein Ganzes
von urvolkstümlichem Zauber, durchflutet von
einem naiven mütterlichen Erziehergefühl, einer
schlichten innigen Moralität. Wie ein kleiner
Unabe, von den Wildgänsen auf die Wander¬
schaft mitgenommen, seine schwedische Heimat
durchreist und bei seinen merkwürdigen Tier¬
freund= und Feindschaften alle Großartigkeit des
Lebens kennen, recht die natürliche Stimme der
Menschlichkeit verstehen lernt, allen Hilflosen ein
* Berlin, B. Cassirer.
** Albert Langen, München.