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„Der Weg ins Freie.“
Ein neuer Roman von Arthur Schnitzler.
*In den letzten Jahrzehnten sind drei Romane erschienen, die ein
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Herausspringen aus allen Gleisen bedeuten, die Höhepunkte der Roman¬
dichtung unserer Zeit darstellen. Das erste dieser Bücher schrieb der Däne
Henrik Pontoppidan — „Hans im Glück“ heißt es — das zweite wieder
ein Däne: Hermann Bang, „Michacl“ heißt es.* Und das dritte wurde
uns jetzt von dem Oesterreicher Arthur Schnitzler mit seinem Roman
„Der Wegins Freie“ (S. Fischer VerlagBerlin) geschenkt. In
diesen drei Büchern sind alle Errungenschaften der neuen Literaturepoche ver¬
einigt: Die meisterliche Technik, die wundervolle Art des Dialoges, und
das Sehenkönnen mit neuen Augen. Man mache sich klar: Alles, was
es an Beziehungen von Mensch zu Mensch oder zur Natur gibt, ist in den
Jahrtausenden, seitdem der erste Dichter mit seinen Aufzeichnungen
begann, bis zum Ueberdruß beschrieben, besungen und dargestellt worden,
und der Dichter von heute wäre in der mißlichen Lage, nur wiederkäuen
zu müssen, was andere vor ihm gekaut haben, wenn es nicht ein Mittel
aus diesem Dilemma gäbe: Das Tausendmalgesagte so zu erzählen, daß
es ganz neu wirkt. Will er sich also Gehör verschaffen, so muß er dem
alten Thema einen besonderen Reiz abgewinnen können.
An diesem Punkt angelangt, setzt gewöhnlich der Streit ein —
Streit um das „Wie“, um die Form, und um das „Was“, um den
Inhalt. Denn man ist bei uns in Deutschland noch sehr genügsam, man
kann sich hier um etwas noch streiten, über das zu streiten im Auslande
niemand mehr einfällt. Man weiß hier auch noch nicht, welch hohe
Ansprüche auf Formvollendung andere Nationen an Dichtungen stellen,
und darum fühlen sich die meisten als gekränkt, wenn ihnen jemand sagt:

„Wie können Sie das noch lesen, an solcher Lektüre Gefallen finden?
Dann also beginnt der Streit: Form oder Inhalt, was ist mehr, worauf
kommt es an? „Auf den Inhalt, den Inhalt,“ heißt es stets. Aber was
nützt denn der Inhalt, wenn er in ungenießbarer Form geboten wird:
Einen schlechtsitzenden Anzug, einen unmodernen Hut zu tragen, schämt
man sich, denn man hat sich auf diesem Gebiete verfeinern gelernt, besitzt
auch einen gewissen Maßstab, was j „ön oder häßlich ist. Auf dem Gebiet
der Literatur dagegen herrscht noch eine große Genügsamkeit. Es gibt da
einige, die auf höherem Niveau zu stehen glauben, wenn sie von der
Marlitt mit einem höhnischen und verächtlichen Lächeln sprechen. Das
sind die allerschlimmsten, denn sie wissen nicht einmal, wie turmhoch die
Marlittschen Bücher, hinter denen man doch immer eine sympathische
geschmackvolle Frauennatur spürt, über dem stehen, was täglich, in der Ueber¬
zeugung, etwas Gutes zu lesen, verschlungen wird. Die meisten können
noch „ailes“ lesen, es unterhält, amüsiert und fesselt sie, selbst wenn es
in der denkbar elendesten Form, mit den abgenutztesten Cliches wieder¬
gegeben und dargestellt wurde. Sie lachen zwar über ihr Dienstmiädchen mit
der geliebten Hintertreppenliteratur, was sie aber die Vordertreppe hinauf¬
tragen, ist sehr oft keinen Deut besser. Sie merken meist nicht den Schwulst
der Sprache, sie ahnen nicht, daß die Personen ihrer Bücher Puppen
statt Menschen sind sie glauben ihrem „Dichter“ ohne sich ein einziges
Mal zu fragen: „Spricht oder handelt denn wirklich im Leben ein Mensch
in dieser Situatien so?“ Nie kommt ihnen ein Zweifel, sie sind wie die
Kinder mit dem Tuschkasten, die von vornherein wissen: „Der Himmel
muß blau und die Bäume grün angestrichen werden. Daß aber der
Himmel auch ret und die Bäume schwarz sein können, wissen sie nicht.
Dies vorauszuschicken war nötig, um den Schnitzler¬
ischen Roman auf den Platz stellen zu können,
den er ein¬
nimmt, ihm das Niveau zu
er hingehört.
schaffen, auf das
Es wird ihrer genug geben, die das Buch lesen und ent¬
täuscht hinlegen werden, weil die sogenannte
„Handlung“
fast ganz
zurücktritt, da dem Dichter alles darauf ankam, nur das Seelenleben
seiner Menschen bloßzulegen. Er ersetzt die Kette äußerer Geschehnisse,
die viele ungern vermissen werden, durch eine „innere Handlung“, durch
den Fortschritt, das Anwachsen und Abflauen aller der zarten, feinen
Beziehungen, die im Liebesleben entstehen und — vergehen. Der Inhalt
des neuen Romans kann daher ganz kurz mit des Dichters eigenen Worten
widergegeben werden: „Wenn Anna später einmal einem Freund, einem
neuen Geliebten so ehrlich, als sie nur vermochte, von der Zeit berichten
wellte, die sie mit Georg verbracht — was konnte der am Ende erfahren?
Nicht viel mehr als eine Geschichte, wie er sie hundertmal in Büchern
gelesen: Von einem jungen Geschöpf, das einen jungen Mann geliebt
hatte, mit ihm herumgereist war, Wonne empfunden und zuweilen Lange¬
weile, sich mit ihm vereint gefühlt hatte und manchmal doch einsam.“
Ist das nicht millienenmal schon geschrieben worden? Und wenn
wir nun Schnitzler lesen, ist es uns als läsen wir solch eine Geschichte zum
erstenmal. Wie er die Menschen hingestellt, da sehen und spüren wir sie
mit dem Empfinden von heute, das eine unendliche Skala neuer Be¬
ziehungen von Seele zu Seele geschaffen hat, die bisher bei allen Schilde¬
rungen unberücksichtigt blieben, weil sie fast „unbewußt“ waren. Wenn
seine Personen sprechen, genießen wir den Reiz eines Gespräches, das
nur Menschen von höchster Kultur führen können und das uns entzücken
muß, selbst wenn wir gegenteiliger Ansicht über das Thema selbst sind.
Und es gibt nichts, das nicht wenigstens gestreift wird, alle Nuancen der
Liebe, alles, was Wien angeht, denn es ist ein spezifisch
Wiener Roman, all die brennenden Fragen, die das Judentum so
leidenschaftlich interessieren, werden erörtert. Gespräche „ohne Resultate“
sind es oft, wie eben im Leben selbst, wo beide Gegner manch¬
mal in ehrlichem, heißem Bemühen ringen, einer den andern
überzeugen will und ihm bereitwillig recht gibt, wenn er recht hat.
Aber wie häufig geschieht es da auch, daß der andere, selbst wenn er
will, nicht mehr mitkann. Da ist das Thema vom Zionismus.
„Immer noch standen Heinrich und Leo einander gegenüber. Die
Sätze stürmten ineinander hinein, verkrampften sich ineinander, schossen
aneinander vorbei, gingen ins Leere.“ Und Georg, der als Dritter diesem
Gespräch gelauscht, „dämmerte eine Ahnung von dieses Volkes geheimnis¬
vollem Los, das sich irgendwie in jedem aussprach, der ihm entsprossen war;
nicht minder in jenen, die diesem Ursprung zu entfliehen trachteten wie
einer Schmach, einem Leid oder einem Märchen, das sie nicht kümmerte
— als in jenen, die mit Hartnäckigkeit auf diesen Ursprung zurückwiesen.
wie auf ein Schicksal, eine Ehre oder eine Tatsache der Geschichte, die
unverrückbar feststand.“ Und da ist das ander: Thema von der „Ver¬
führung“. Wundervoll ist die Szene, als Georg zu dem alten Arzt
Dr. Stauber kommt, der „Annerl“ die Geliebte Georgs, von klein auf.
gekannt hat. Nicht ein Wort des Vorwurfs anfänglich, als der junge
Baron aber merken läßt, daß er das Mädchen wirklich liebt, geht Doktor
Stauber aus seiner vornehmen Reserve heraus: „Wir“ (alten Leute) —
sagt er — „können noch so erhaben sein über alle Vorurteile — eine
Kleinigkeit ist es heutzutage noch immer nicht, wenn sich ein junges
Mädel aus guter Familie zu so etwas entschließt. Es hat mir doch einen
leisen Ruck gegeben, als Annerl neulich hier war und mir die Sache
erzählt hat. Aber vielleicht sehen Sie mir diese „Rückständigkeit“ nach,
wenn Sie bedenken, daß ich aus einer anderen Zeit komme. Und dem
Einfluß seiner Epoche kann sich selbst ein ziemlich selbständig denkender
Mensch nicht entziehen. Das ist ja das Merkwürdige. Aber glauben Sie
mir, es gibt auch heutzutage, selbst unter den jungen Leuten, die bei
Nietzsche und Ibsen aufgewachsen sind, gerade so viel Philister, als es vor
dreißig Jahren gegeben hat. Sie geben sich nur nicht zu erkennen, außer
es geht ihnen selbst an den Kragen, zum Beispiel, wenn man ihnen die
Schwester verführt oder wenn ihre Frau Gemahin ihnen plötzlich mit der
Idee kommt, sie will sich ausleben ... Manche sind natürlich konsequent
und spielen ihre Rolle weiter ...
Das ist aber mehr eine Frage der
Selbstbeherrschung als der Weltanschauung.“
Ein Ueberreichtum des Stoffes entfaltet sich, der den Dichter ver¬
anlaßt, Situationen, deren jede einem anderen, Autor genügt hätte, ein
ganzes Buch daraus zu machen, oft mit einer Nebenbemerkung abzutun —
die aber für seine Zwecke ausreicht. Genug, das Kind, das Annert
erwartet, kommt tot zur Welt. Keiner von diesen beiden Menschen, deren
Leben, Denken und Empfinden sich auf das kleine Wesen unmerflich
zugespitzt, hat diesen Ausgang erwartet, nun wandelt sich ihre ganze
Gefühlswelt, sie hat ihren Sinn verloren. Und sie trennen sich. Man
muß dieses „Auseinandergehen“ selbst lesen, um seine wundervolle Schön¬
heit zu würdigen.
Diese Andeutungen über den Charakter des neuen Buches werden
ausreichen für den, der solche Bücher liest. Für andere werden sie
abschreckend wirken, und man wird mir dankbar sein, daß ich sie vor einer
nach anderem Standpunkt —
unnützen Geldausgabe, die sie durch
Ankauf des Buches gemacht hätten, glücklich bewahrt habe.
Erdmann Gracser.