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23. Der Neg ins
ist recht bemerkenswert, wie in dieser Novelle die Entwick¬
österreichischer Erzählung, daß sie nie den Zusammenhang
lung in ihrem eigentlichen Wesen anschaulich wird, das
mit dem Boden vollkommen verliert: die Jugendeindrücke,
Das
igentliche Reisen, Durchmachen, Hintersichbringen.
stärker und herrschgewaltiger, weil vereinzelter, ein¬
Auch in
ist eine seltene, psychologisch bedeutsame Kunst.
gedrungen in die Psyche, haften tiefer und wirken nach¬
Einzelpartien offenbart Biberich viel Geist, und graziöse
haltiger als bei uns, wo einer den anderen übertönt.
Seelenschilderung in Antithesen und Schlagworten ist sein
Rosegger etwa greift immer wieder auf die Land¬
eigentliches Feld. Woyl ist er ohne Schnitzler kaum denk¬
zustände seiner Heimat zurück; sein neuestes Buch schildert
bar, wohl fehlt ihm wiederum noch Schnitzlers tiefes
zwei Provinziungens, die zum Studium kommen. Einer
Schweigen, sein unterseelischer Akkord, sein „weites Land“,
wird Naturwissenschafter, Materialist, Aufklärer; der
aber er hat doch auch eigenes Licht, und er weiß es zu ge¬
andere Pfarrer. Jener verführt ein Mädchen, wird da¬
(Schluß folgt)
brauchen.
durch unglücklich und findet die Verführte erst nach langem
Suchen, gerettet durch die klaglose Güte des Pfarrers, der
X.-
um ihretwillen viel Bitterkeit erduldet hat. Das Ganze
könnte wie eine Verherrlichung des Katholizismus aus¬
sehen, zumal es dem „Modernen“ recht jämmerlich schlecht
Bücherschau
geht, er sich aufgelegt läppisch benimmt und oft mit Ironie
dargestellt wird. Im Grunde aber will Rosegger nur die
Mathematische Bibliothek. Herausgegeben von W. Lietzmann
und A. Witting.
siegende Macht der Güte, des Verstehens und Verzeihens
Den populären Sammlungen für biologische Wissenschaft
gestalten, die ja nicht ohne weiteres als katholische Sonder
stellt sich diese mathematische Bibliothek — eine längst von vielen
eigenschaft gelten darf. Sehr bedeutsam ist das Werk in¬
gefühlte Notwendigkeit — zur Seite. Die Sammlung, die in
sofern, als es die Elemente österreichischen Lebens sozusagen
einzeln käuflichen Bändchen (zum Preise von 80 J) in zwang
recht nacht, in Werdedentlichkeit zeigt. Rosegger hatte als
oser Folge herausgegeben wird, bezweckt, allen denen, die
Landkind eine gewisse Kultursehnsucht und Beharrung zu¬
Interesse an der Mathematik im weitesten Sinne des Wortes
gleich. Er strebt in diesem Buch sichtlich nach Ausein¬
aben, es in angenehmer Form zu ermöglichen, sich über das
andersetzung mit den Kulturproblemen. Es ist mir per¬
gemeinhin in den Schulen Gebotene hinaus zu belehren und zu
unterrichten. Die bisher herausgegebenen drei Bändchen lassen
sönlich nun leider ziemlich unzweifelhaft, daß ihm eine
erkennen, daß das erstrebte Ziel erreicht worden ist. In dem
wirkliche Ernberung der jungen Kultur nicht gelungen ist.
ersten Bändchen behandelt E. Löffler die Ziffern und
Er ist gescheitert, nicht als Dichter, aber als Denker. Das
Ziffernsysteme der Kulturvölker in alter und
nämlich haben viele der strebenden Österreicher nicht be¬
nener Zeit, und liefert damit eine Arbeit, die auf dem
dacht, daß die Eroberung der Kultur vor allem eine ge¬
Grenzgebiete zwischen Mathematik und Philologie stehend, der
waltige geistige Anstreugung voraussetzt; das Suchen allein
Beachtung aller Gebildeten wert ist. An zahlreichen Beispielen
tut es nicht und das Spiel mit den Schätzen. Roseggers
wird die Entwicklung der Zahlen und Ziffern bei allen Kultur¬
hölkern gezeigt und damit ein wertvoller Beitrag zur Kultur¬
neues Buch macht einen hilflosen Eindruck; dieser Kampf
eschichte der Menschheit gegeben. H. Wieleitner behandelt
gegen den Materialismus und das ethische Draufgänger¬
m zweiten Bändchen der Sammlung den Begriff der Zahl
tum hinkt nicht nur nach und wird nicht nur etwas inserior
einer logischen und historischen Entwicklung. Von den
n
geführt, sondern vor allem ist das Buch überhaupt nicht
natürlichen Zahlen und der Null ausgehend gelangt die äußerst
dichterisch gestaltet, sondern künstlich zusammengesetzt; und
eschickt geschriebene Darstellung zu den negativen Zahlen, den
so zeigt sich, daß eine innere Verarbeitung des Stoffes, die
Brüchen, den Irrationalzahlen und endlich zu den imaginären
allein erst diese ironische Behandlung rechtfertigen würde,
Zahlen. Parallel mit der Schilderung der logischen Weiter¬
bildung des Zahlbegriffs läuft eine Darstellung der historischen
gar nicht gelungen ist; die „beiden Häuse“ erinnern an eins
Entwicklung. So ist eine Arbeit entstanden, die namentlich den
der ganz wenigen nicht=erfreulichen Bücher von Marie
Schülern höherer Lehranstalten eine gute Zusammenstellung und
v. Ebner=Eschenbach, „Vertram Vogelweid“ das auch die
wertvolle Ergänzung ihres Wissens bietet. W. Liotzmann
Moderne betraf und auch nicht tief ging, obwohl es mehr
will in seinem Bändchen: Der Pythagoreische Lehrsatz
geistige Beherrschung aufwies als dieses. — Näher als
mit einem Ausblick auf das Fermatsche Problem,
irgendwo am Zentrum der erstrebten Kultur fühlt sich der
in diesem historisch und unterrichtlich bedeutsamen Beispiel in
ganz elementarer Weise zeigen, wie mannigfache Beziehungen
Österreicher in Wien. Und mit Recht. Die eigentlich Über¬
zwischen den verschiedenen Gebieten der Mathematik bestehen,
legenen jene österreichischen Dichter, welche aus dem
wie die mathematischen Tatsachen ein Netz bilden, nicht eine
Stadium der Sehnsucht heraus in das des Besitzes ge¬
Kette. Schon aus diesen drei Bändchen ersieht man, daß die
langten oder von früh auf im Besitz waren, trugen wohl
Sammlung teils eine Vertiefung und eingehendere Bearbeitung
alle stark Wiener Prägung. Wir denken an Saar, Frau
solcher elementarer Probleme bezweckt, die allgemeinere kulturelle
d. Ebner=Eschenbach, Schnitzler, Schankal, den reisen
Bedeutung oder besonderes mathematisches Gewicht haben, teils
Bartsch. Hohe dichterische Potenz nur aus provinziellem
Dinge behandelt, die den Leser — ohne zu große Anforderungen
an seine mathematischen Kenntnisse zu stellen — in neue Gebiete
Dasein kenne ich nur bei Albert v. Trentini, der freilich der
der Mathematik einführen. Die Bändchen regen allenthalben
italienischen Tradition nahezustehen scheint. Durch Wiens
zu eigenem Nachdenken an und sind überdies in einem so an¬
läuterndes, erschütterndes, aufwühlendes, ordnendes Leben
genehmen Plaudertone geschrieben, daß man ihnen den Ernst,
also geht der junge Österreicher hindurch; und nichts ist
der dahinter steht, gar nicht anmerkt. Wir können diese drei
natürlicher, als daß sich diese programmatische Ausein¬
Sie
Bändchen angelegentlich den weitesten Kreisen empfehlen.
andersetzung auch in Büchern widerspiegelt. Heuer legt
ieten den Schülern höherer Lehranstalten einen längst ent¬
Adam Müller= Gutenbrunn Novellen vor, die einzelne
behrten Lesestoff, der nicht nur fesselt, sondern auch
sind aber auch weiterhin für das breitere
Wiener Stoffe nicht ohne jene Eleganz abgerundeter
ördert; sie
Publikum bestimmt. Es ist hohe Zeit, daß man von der Mathe¬
Formen behandeln, welche wir von Bahr, Salten und selbst
matik im Publikum nicht nur mit Schen — in diesem oder
von einem so uuliterarischen Talent wie Karl Adolph her
— spricht, sondern, daß man Gelegenheit erhält,
enem Sinne
kennen. Es sind gestaltlich einige alte Bekannte vertreten:
ich über das Wesen der Mathematik nach und nach ein klein
die Vorstadtfrau, die bescheiden aufgewachsen ist und etwas
wenig zu unterrichten. Das geht alle an, die auf den Namen
spät ihre Schönheit und Lebenslust entdeckt, der hofrätliche
eines Gebildeten Ansoruch machen. Mögen die weiter in Aus¬
Buratheaterhabitué, das jungwiener Mädchen modernsten
icht genommenen Bändchen, deren Titel und Verfasser viel ver¬
sprechen, in gleich glücklicher Weise das Nützliche mit dem An¬
Strebens und traditioneller Herzenswünsche. Wer also
genehmen zu verbinden verstehen, wie die obengenannten. C. J.
das literarische Porträt Wiens, das man sich aus den
Büchern Hausers, Harts, Stifters, Saars, Marie von
Ebner=Eschenbachs, Schnitzlers, Lux', Deeseys, Bahrs,
vol
Aus'n erzgebirgschen Hutzuschtüb'l. Lustige Erzählungen
ein paar Einzelzüge bereichern will, greife zu. Gereifte
Robert Müller=Marbach (Flöhatal). Zweite Auflage.
Dichteng freilich findet man einstweilen hier nicht. Müller¬
Chemnitz 1911. H. Thümmlers Verlag. 141 Seiten.
Gulenbrunn hat durchaus nicht die Überlegenheit und noch
Die erste Auflage dieser Sammlung von Geschichten in erz¬
weniger den tiefen Blick, der solche verbürgen würde. Viel
jebirgischer Mundart haben wir in dieser Beilage 1910 Nr.
S. 24 besprochen und empfohlen. Der etwas größere Umfang
mehr davon hat Gustav Biberich, dessen kleine Wiener
erklärt sich nicht durch eine Vermehrung des Stoffes, sondern
Novelle ein recht wohlgeratenes Kunstwerk ist. Der In¬
durch die Beigabe von Bildern, einfachen Holzschnitten, die die
halt ist nicht aufregend: ein Student gerät in die Gesell¬
örtlichen Verhältnisse recht gut wiedergeben, unter denen die
schaft einer sehr geistreichen, freisinnigen Frau und ihrer
Vorgänge spielen. Die von uns geäußerten Wünsche sind leider
Töchter; schier aus Versehen gerät er mit der Mutter in
nicht genügend berücksichtigt, namentlich ist die Schreibung der
Wörter noch nicht nach den angegebenen Grundsätzen durch¬
ein intimes Verhältnis und kehrt dann rasch und plötzlich
geführt; immer noch ohne Erklärung blieb Zaang S. 31, ge¬
in sein ärmlicheres Budendasein zurück. Um eine Drehung
C. M.
radelt S. 79 usw.
höher ist er „auf der Spirale“ des Lebens angelangt. Es
Buchdruckerei der Dr. Güntz'schen Stiftung vormals E. Blochmann & Sohn in Dresden
Verlag des K. S. Adreß=Comptoirs in Dresden