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ins Freie
Ne
23. Der box 3/1
An

möglichst sachkundigen Mitarbeitern (Hevesi, Pötzl, Walla¬
schek, Zeidler, Oberhummer, Mayer, Pistor, Dreger, E.
7
Leisching, R. E. Petermann u. a.) umgeben, um in einem
R
sehr ausführlichen Werk““ der Wiener und der österrei¬
F
chischen Art (Geographie, Geschichte, Literatur, Musik, bil¬
Renien
dender Kunst, Theatergeschichte, Volksleben) gerecht zu wer¬
den. Auch Schnitzlern scheint es gereizt zu haben, das ganze
österreichische Wesen in einen Roman zu bannen. Das ist
58. Jahrgang.
ihm aber nicht gelungen und er ist in mancher früheren
Arbeit diesem Ziele näher gekommen, als gerade im „Weg
ins Freie“. Eine der Hauptursachen des Mißlingens mag
Klub= und Jourjüngling. In der Mitte zwischen Ehrenberg
darin gefunden werden, daß Schnitzler der Judenfrage einen
Vater und Ehrenberg Sohn steht der immer tadellose, angli¬
zu breiten Raum eingeräumt hat. Sich in dieser Frage ein¬
sierte James Wyner (alias Weiner). Dazu gesellen sich dann
mal gründlich auszusprechen, scheint ihm, der selbst jüdischer
noch verschiedene Literaturtypen aus dem Café Griensteidl,
Abstammung ist und doch gleichzeitig durch und durch wie¬
und die Damen, von denen die lüsterne demi-vierge Sissy
nerisch empfindet, ein wahres Herzensbedürfnis gewesen zu
Wyner, die ernstere Else Ehrenberg und Leos Schwester
sein. Aber Gott sei Dank beherrscht die leidige Judenfrage
Therese eingehender charakterisiert sind. Diese Menschen —
unser Leben doch nicht so sehr, wie das nach dem Schnitzler¬
sie sind ausgezeichnet und scharf umrissen, während die
schen Roman den Anschein hat. Der Antisemitismus, der
wenigen Nichtjuden, wie z. B. Georgs Standeskollegen, blaß
noch vor wenigen Jahren eine starke politische Werbekraft
und undeutlich verschwimmen — füllen den Roman mit
besaß, ist heute sogar in der Politik recht verblaßt: jüdisch¬
ihrem größtenteils nichtigen, unfruchtbaren Reden und Han¬
freundliche „Deuts, fortschrittliche" und — ehemals — ju¬
deln. Insbesondere mit ihrem Gerede: wie und wo zwei
denfeindliche „Deutschvölkische“ gehen als „Deutschfreiheit¬
von ihnen zusammentreffen, diskutieren sie unweigerlich
liche“ Hand in Hand, und selbst unter den Christlichsozialen
über das Judentum, wobei jeder einen anderen Stand¬
mehren sich täglich die, die ihrerseits wiederum mit den
punkt einnimmt, so daß jegliche Auffassung des Problems,
Deutschfreiheitlichen paktieren und an ihren einstigen Anti¬
von der völligen Leugnung einer Judenfrage und der über¬
semitismus nicht erinnert werden wollen. Im „Weg ins
zeugten Assimilationstheorie angefangen bis zum fanati¬
Freie“ überwuchert die Judenfrage alles andere. Mit Aus¬
schen Jerusalem=Revertitentum, ihren Verteidiger erhält: Es
nahme der Hauptgestalt des Romans, eines Barons Georg
ist kaum übertreibung, wenn man behauptet, daß die Be¬
v. Wergenthin, und der Geliebten Georgs sind alle bedeu¬
handlung des Judenpunktes etwa ein Drittel des Buches
tenderen Persönlichkeiten Juden und dabei samt und sonders
ausmacht. Fast wärelman versucht, dem Poeten seine eigenen
so hochgemut und edel, daß man fühlt, sie sollen zur Wider¬
Worte aus dem Roman zuzurufen: „Man hat wirklich manch¬
legung des Antisemitismus dienen. So merkt man Ab¬
mal den Eindruck, daß Sie überhaupt nicht mehr imstande
sicht .. . . Da ist zum Beispiel der alte Edmund Nürn¬
sind, etwas anderes in der Welt zu sehen, als immer und
berger, der vor Jahren einmal mit einer Dichtung einen
überall die Judenfrage.“ Und wie Georg v. Wergenthin bei
klauten Erfolg errungen hat, jetzt aber nichts mehr schreibt,
der Beschreibung einer antisemitischen Radauszene, die der
weil er die Menschen verachtet; dann der junge, noch eifrig
Abgeordnete Dr. Stauber mit selbstzerfleischender Ausma¬
schaffende Heinrich Bermann, ein zersetzender Skeptiker;
lung zum besten gibt, so findet auch der Leser häufig, „in¬
hernach der gütige, allverstehende alte Arzt Dr. Stauber.
nerlich, es wäre nun genug“ ....
Diesen drei theoretisch=philosophischen stehen die tätig=eifer¬
Die Panegyriker, die von einem politisch=kulturellen
vollen Juden gegenüber: der Sohn des Dr. Stauber, auch
österreichischen Mikrokosmus lobsingen, zitieren zwei Stellen
Arzt, eine Zeitlang jedoch die politische Karriere einschla¬
aus der umfangreichen Erzählung. An der einen wird eine
gend, um für das Judentum gegen den Antisemitismus zu
Inkongruenz zwischen öffentlichem und privatem Verhalten
1*
kämpfen, und der Zionist Leo Golowski, der als Einjahrig¬
eines Politikers als österreichisch bezeichnet und der Spre¬
Freiwilliger einen ihn schikanierenden Oberleutnant im Duell
cher fügt hinzu: „Bei uns ist ja die Entrüstung so wenig
tötet. Einer ganz andern Welt entstammen die weiter ge¬
echt wie die Begeisterung. Nur die Schadenfreude und der
schilderten Geschäfts= und Gesellschaftsjuden. Das Geschäft
Haß gegen das Talent, die sind echt bei uns.“ An der zwei¬
vertreten Leos Vater, der verarmte Agent Golowski, und
ten Stelle nennt einer Österreich das Land der sozialen
der reiche Bankier Salomon Ehrenberg. Dessen Sohn Oskar
Unaufrichtigkeiten. „Hier wie nirgend anderswo (besser:
und der farblose Willy Eißler repräsentieren den Turf=,
nirgendwo anders) gebe es wüsten Streit ohne Spur von
Haß und eine Art von zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis
* Wien. Von Hermann Bahr. In der Sammlung „Städte
der Treue. Zwischen politischen Gegnern existierten oder
und Landschaften“ Verlag von Karl Krabbe, Stuttgart, 1907.
* Wien. Briefe an eine Freundin in Berlin, von Franz
entwickelten sich lächerliche persönliche Sympathien, Partei¬
Servaes. In der Sammlung „Stätten der Kultur", Verlag von
freunde hingegen beschimpften, verleumdeten, verrieten ein¬
Klinkhardt und Biermann, Leipzig, 1908.
ander. Nur bei wenigen fände man ausgesprochene Ansichten
*** Wien. Ein Führer durch Stadt und Umgebung. Redi¬
über Dinge oder Menschen, jedenfalls seien auch diese we¬
giert von Eugen Guglia. Buch= und Kunstverlag Gerlach
nigen allzu schnell bereit, Einschränkungen zu machen, Aus¬
& Wiedling, Wien, 1908.
nahmen gelten zu lassen. Man habe hier beim politischen
Kampf geradezu den Eindruck, wie wenn die scheinbar er¬
bittertsten Gegner, während die bösesten Worte hinüber und
herüber flögen, einander mit den Augen zuzwinkerten: Es
ist nicht so schlimm gemeint.“ Führt ein Kritiker zwei solche
Zitate so leichthin und beispielsweise an, dann glaubt der
mahene
orft
ter Beob¬
etnetntie