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Gust
box 1/11
10. Leutnant
epunig an an“
Feuilleion.
44.—
Neue Novellistik.
Von Kurt Aram (Berlin).
So oft ich moderne Novellen lese kommen mir zwei
deutsche Weister der Novelle nicht aus dem Sinn: Tieck
und Heyse. Tieck scheint ganz vergessen zu sein, Heyse ist
uns dafür um so gegenwärtiger. In der Einleitung zu sei¬
dem „Deutschen Novellenschatz“ hat er selbst gesagt, was
seiner Meinung nach zu einer rechten Novelle gehört. Vor
Allem betont er da die Wichtigkeit der „Geschichte“ als
solcher. In seinen Novellen hat denn auch in der That die
Geschichte ihre selbstständige Bedeutung neben der Dar¬
stellung der Charaktere und der Vortragsweise, in die das
Ganze getaucht ist. Bekannt ist sein hierhergehöriges Wort,
in
jede Novelle solle ihren „Falken“ haben, womit
Analogie zu einer Novelle Boccaccios gemeint ist: jede
Novelle solle in ihrer Geschichte etwas Besonderes, Uner¬
wurtetes aufweisen, — dort bei Boccaccio ist das eben ein
Falke — ein Ueberraschendes, das der Geschichte die beson¬
dere Wendung gibt durch ihre Wirkung auf die Charaktere,
das zugleich aber nicht rein von Außen her wie ein deus
ex machina dazwischenspringen darf und den Knoten zer¬
hauen, sondern sich aus dem oder den Charakteren, wenn
auch zunächst als etwas Ueberraschendes, doch zugleich als
etwas Natürliches ergibt.
Während nun unsere meisten modernen Novellisten, nicht
selten von Flaubert her beeinflußt, großen Werth darauf
legen, bei ihren Charakteren das Besondere, das sie von
jedem andern Menschen unterscheidet, hervorzuheben, also
gewissermaßen den Charakteren ihren „Falken“ zu
geben, scheint Heyse's Wort ziemlich in Vergessenheit ge¬
rathen zu sein, denn man findet selten eine moderne No¬
velle, deren Geschichte ihren Falken hat. So sehr die Lust
zu charakterisiren gewachsen ist, so sehr hat die Lust zu fabu¬
liren abgenommen. Das psychologische, physiologische Inter¬
esse an den Menschen frißt meist das Interesse an der
Fabel auf. Georg Brandes rühmt einmal an Heyse, dem
Novellisten: „Er vermag den einzelnen eigenthümlichen Fall
rein und scharf novellistisch von dem allgemeinen Kultur¬
und Gesellschaftszustand, in welchem er ein Glied ist, abzu¬
heben, ohne wie die romantischen Novellendichter den Vor¬
gang ins Unwirkliche und Märchenhafte hinüberzuspielen
und ohne ihn jemals in eine blos epigrammatische Pointe
auslaufen zu lassen. Seine Novellen sind weder kurze Ro¬
mane noch lange Anekdoten. Sie haben zugleich Fülle und
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alens ist in äußerst günstiger Geschaftslage im verkehrreichsten
Stadtheil ein größeres Bauterrain, welches nach Wunsch porzen
irt werden kann, vortheilhaft unter sehr günstigen Bedingungen
u verkaufen. Beste Lage für Waaren= und Geschäftshäuser aller
Urt sowie Hotel und Restaurant. Namentlich wäle einem Hotel¬
direktor, Oberkellner 2c. mit = 50,000 gute Gelegenheit geboten,
ich selbstständig zu machen und eine gute Zukunft zu sichern, da in der
bezgi. Stadtgegend ein besseres größeres Hotel dringendes Bedürfniß ist.
Gen Anfragen unter K W 3885 an Rudolf Mosse, Köln a. Rh.
77090

strenggeschlossene Form.“ Dergleichen ist selten der Rahm
moderner Novellen.
Unter den vorliegenden Büchern entsprechen der Heyse¬
schen Forderung noch am ehesten einige der Geschichten in
„Aus Spätherbsttägen“*) von Marie v. Ebner¬
Eschenbach, die sie freilich nicht Novellen, sondern ein¬
fach Erzählungen nennt. Die Heyse'sche Theorie hat für die
Praxis hauptsächlich den Vorzug, daß solche Novellen einen
außerordentlich geschlossenen, einheitlichen Eindruck machen.
Aber in dieser Theorie liegt doch zugleich die Gefahr, ge¬
künstelt zu werden. Namentlich in der Geschichte „Uner¬
öffnet zu verbrennen“ ist auch Marie v. Ebner=Eschenbach
dieser Gefahr nicht entgangen. Sie hat viel Ausgetifteltes,
Konstruirtes, so viel Reizvolles sie auch an Einzelheiten des
Stils, der Charakterzeichnung, der Fabel aufweist. Sie ent¬
wickelt sich zu sehr nach dem Schema eines wenn auch fein
erfundenen Mechanismus. So aufregend sie ist, kann sie mich
künstlerisch voch nicht recht befriedigen. Die Dichterin hat
ich ihre Aufgabe geistreich gestellt und geistreich gelöst. Da
aber nun einmal eine Novelle keine mathematische Aufgabe
ist, befriedigt sie eben nicht. Und so schön eine andere Ge¬
chichte „Die Spitzin“ auch ist, die von einem Menschen= und
Hundeleben erzählt, in der eine alte verprügelte Hündin de
ungen hinter dem Zaun aufgelesenen Provi zur Mensch
werdung verhilft, so kann ich eben auch hier nicht an die
Pointe, den „Falken“ dieser Geschichte glauben. Es hir
dert mich daran meine Hundekenntniß. Wenigstens habe ick
trotz meiner ausgedehnten Hundebekanntschaft noch keinen
Hund gefunden, dem ich zutraute, daß er grade dem Men¬
chen, der ihn eben erst zu Tode prügelt, noch im Sterben
seine hilflosen Jungen zuschleppt. Meine Hundebekannt¬
chaften besäßen hierzu zu viel Charakte“. Davon abgesehen
ist es der Dichterin gelungen, die uns schon einmal eine
prachtvolle Hundegeschichte geschenkt hat, in der „Spitzin“
eine Erzählung zu geben, die rührt, ohne sentimental zu
werden. Eine Kunst, die deshalb so schwer ist, weil sie gar
viel künstlerischen und menschlichen Takt verlangt. Aehn¬
liches gelingt in der stillen, zu Herzen gehenden Geschichte
vom „Vorzugsschüler“, die allen ehrgeizigen Eltern noch be¬
sonders „zur Nachahmung“, wie die Bureaukraten sagen,
empfohlen werden muß. Eine meisterhafte Novelle im Sinne
älterer Kunst ist „Maslan's Frau“. Ihre Lektüre bedeutet
einen der seltenen ungetrübten Genüsse, wie sie ein Kritikus
leider kaum alle Schaltjahre einmal hat. Dann habe ich
mich gefreut, daß eine so reife Dichterin doch noch so jung
sein kann, einen Scherz wie „Die Visite“ in ihr Buch auf¬
unehmen. So nett er ist, so hat er doch nur, um mit Bran¬
des zu reden, den Werth einer „langen Anekdote“. Trotz
*) 2 Bände. Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel, 1901.
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