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10. Leutnant Gustl
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uneneeentele

Nr. 39.
Die 2
lassen — er ist verloren. Er darf als Offizier nicht weiter
leben, er müßte quittiren. Und da ihm jede Lebensforn
außerhalb dieses Berufes verhaßt ist, ja ausgeschlossen er
scheint, beschließt er, ja es bedorf keiner Entschließung, es
weist sich ihm als der einzig natürlich=ehrenvolle Ausweg, sich
am nächsten Morgen eine Kugel durch den Kopf zu schießen
Eine letzte Nacht vergeht, bringt alle Bilder des jungen
nicht allzu reichen bisher verlebten Lebens, weckt Gedanken
an die Heimath, lichte Familienbilder, und jede Vorstellun,
endet kaum begonnen, die Linie reißt ab — morgen soll er
sich ja den Lebensfaden selbst abschneiden. Das Gebot der
Offiziersehre heischt das. Der Morgen naht, schwerfällig
mühsam kommt der Tag. Lieutenant Gustl nimmt im
Café sein letztes Frühstück ein, da sagt ihm der Marqueur:
„Haben Herr Lieutenant scho gehör
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der Bäcker¬
meister ist gestorben. Ein Schlaganfall hat dem Leben des
hochgradig erregten Menschen, der wohl am Tag vorher
schon nicht mehr in geistiger Ordnung war, ein Ende ge¬
macht. — Und Lientenant Gustl darf weiterleben. Niemand
weiß ja von alledem Gestrigen erwas, wie ein Traum ist es
nun. Sein junges Leben freut ihn. Nichts ängstigt ihn
mehr. Nun geht ja alles gut. Das Duell, das er vor
sich hat, ängstigt ihn nicht. Er ist ja tapfer, der Lieutenant
Gustl.
Das ist, peinlich objektin nacherzählt, der Inhalt und
auch der Stimmungsgehalt der Novelle. Wo liegt da die
Schmähung der Armee? Ist es denn die Aufgabe des
Dichters nur die sozusagen moralischen Formnen des Lebens
darzustellen? Oder soll für die Zukunft die Charakterisirung
von Offizieren, die psychologische Analyse ihrer Schicksate
überhaupt verboten sein, für österreichische Reserveoffiziere
wenigstens? Dabei ist Lieutenant Gusti keineswegs ein ver¬
kommener Mensch. Wäre er es, dann könnte ja eine Kommis¬
intelligenz vielleicht auf den Gedanken kommen, die Armee
verlange von ihren Mitgliedern, auch von denen der Reserve,
daß sie ihre Genossen auch dichterisch nicht in bösem Lichte
darstellen. Schließlich darf man ja an Hoftheatern
Richard III. aufführen, ohne daß man von einem Kartell der
gekrönten Häupter gegen diese Aufführung, weil sie geeignet
ei, die Achtung vor diesem Stande zu verwischen, ge¬
hört hätte. Aber, besinnt man sich nur recht, so ist der
Lieutenant Gustl zwar kein großes Geisteskind, aber er er¬
füllt doch alle Bedingungen des ehrenhaften Normal¬
menschen, ja er ist in seiner strengen Auffassung des Berufes
sogzar in gewissem Sinne sympathisch. Daß er sich schließlich
freut, nicht sterben zu dürfen, ist doch am Ende entschuldbar
Muth wird ihm von Schnitzler auch nicht abgesprochen,
denn das scharfe Duell am nächsten Tage macht ihm
keine Angst.
Man versteht das Verdikt darnach von keinem Stand¬
punkte aus. Der Ton der Noveile ist ebensowenig gehässig,
wie der Inhalt. Es ist eine ununterbrochene Aufeinander¬
folge aller Gedanken des Lientenants in dieser Nacht -
wo liegt da die Herabsetzung der Armee? Auch von einer
Tendenz ist nichts zu merken. Ein Dichter hat ganz einfach
eine Seelentragödie aufgeschrieben, ohne eine Moral, eine
Tendenz auch nur anzudeuten. Was bleile von der litterarischen
Freiheit übrig, wenn selbst die ungehlssige Darstellung eines
Schicksals aus irgend einem Berufskreise die gesellschaftliche
Ausstoßung zur Folge haben soll. Die Offiziere machen
den Anfang. Die Beamten oder Lehrer werden folgen,
dem Unverstande ist Macht zu tausend Toorheiten und Be¬
chränktheiten gegeben. Deshalb ist hier der eine Fall genau
auseinandergesetzt worden. Er ist symptomatisch, vielleicht
nur der erste einer nun folgenden Reihe, sicher aber ein
charakteristisches Zeichen der gesellschaftlichen und kulturellen
Stellung des Dichters in unserem Lande.
Wien.
W. Fred.
ahclee Ves #
* Wien, 20. Juni. Der hiesige Eyrenrat der Landwehr¬
officiere erklärte den bekannten Schriftsteller Arthur Schnitzler
der Officiercharge verlustig, weil er durch die Gestalt des
Leutnants Gustl in einer Novelle den Officierstand verletzt habe.
Schnitzler, der sich durch seine geistvollen Theaterstücke einen Namen
gemacht hat, ist Arzt und gehörte als Regimentsarzt der Reserve
dem Sanitätsofficiercorps an, welches dem Ehrengericht unterstellt
ist. In der Novelle „Leutnant Gustl“, welche bei S. Fischer
in Berlin erschienen ist, schildert er in sehr frischen Farben, wie
ein junger Leutnant abends beim Ausgange aus einem Concert,
in dem er sich arg gelangweilt hat, im Gedränge an der Garde¬
robe mit einem Bäckermeister, den er vom Kaffeehause her ober¬
flächlich kennt, in einen kleinen Streit geriet. Der handfeste Meister
drückt dem Leutnant die Finger so fest zusammen, daß dieser keine
Bewegung nach seinem Degen machen kann und versetzt ihm dann
einige Verbalinjurien. Von den Umstehenden hat niemand etwas
Verdächtiges bemerkt: Die Leute glauben, der junge Officier und
der ältere Civilist hätten sich freundlich begrüßt, die Hand gedrückt
und einige Mitteilungen gemacht. Leutnant Gustl aber geht ganz
zerschmettert fort: Er ist beschimpft; er ist entehrt; er kann nicht
Officier bleiben; er muß sich totschießen. Die ganze Nacht irrt er
kreuz und quer herum, eine Beute peinvoller Grübeleien. Aber,
und das ist sehr fein beobachtet, in diese ernsten quälenden Ge¬
danken mischen sich auch die tollsten Schnurren, die leichtfertigsten
Scherze. Entschlossen, sich zu töten, geht der Leutnant am frühen
Morgen seiner Wohnung zu. Ermüdet durch das stundenlange
Umherlaufen, empfindet er Hunger und Durst, tritt in sein Kaffee¬
haus und bestellt Frühstück. Während der Kellner ehn bedient,
fragt er: „Na, Herr Leutnant, Sie haben ja auch den Bäcker¬
meister hierneben gekamt?“ Leutnant Gustl erschrickt. Sollte der
schon was wissen? Aber der Kellner fährt fort: „Denken Sie
ich, der ist plötzlich #estorben! Heute Nacht kam er aus einem
Concert heim, stürzu auf der Treppe, vom Schlage getroffen, zu¬
sammen und starb, ohne noch ein Wort zu sprechen. Ja, ja, so
geht's.“ Leutnant Gustl atmet auf. Gerettet! Jetzt kann er
weiter leben, denn — es weiß ja niemand, daß er entehrt ist!
Das alles ist unter sorgfältiger Wahrung des Wiener Milieus
mit feinster psychologischer Analyse in zierlichster Filigran¬
arbeit geschildert. Der ehrengerichtliche Proceß wird für
das Buch eine Niesenreclame machen, aber die Arbeit
verdient auch um ihrer selbst willen beachtet zu werden.
Daß durch die psychologische Analyse eines jungen Leutnants,
in dessen Hirn wahre und falsche Ehrbegriffe durcheinanderwogen,
die Ehre des österreichischen Officierstandes verletzt sein sollte, wird
niemand einsehen. Aber Dr. Schnitzler hat auch eine gewisse Mit¬
schuld an dem Urteil: Er weigerte sich, vor dem Ehrenrat zu er¬
scheinen, da er diesem in seiner Eigenschaft als Schriftsteller nicht
unterstehe. Wäre er erschienen und hätte seinen Kameraden Aus¬
kunft über seine Novelle und deren Tendenz erteilt, so hätte man
ihn sicherlich ungeschoren gelassen. Der Proceß lenkt übrigens
auch die allgemeine, nicht nur die literarische, Aufmerksamkeit auf
einen fast gleichzeitig erschienenen Roman desselben Verfassers:
„Frau Bertha Garlan“, der ebenfalls bei S. Fischer in Berlin
erschienen ist. Der Roman behandelt ein erotisches Problem mit
großer Feinheit und Wahrscheinlichkeit.