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Wien, Samstag
Neue Freie Presse.
Emrintes 222 Iinamiestinelimins 22: U Cieneausatugg
„Flamme“ angesagt, ohne daß es zu einer Aufführung in
Newyork, die allein maßgebend ist, gekommen wäre.
Aehnlich verhält es sich mit Schnitzler, dessen „Komödie der
Verführung“ uns für diesen Winter versprochen worden.
nikbeilage
Man wagt sich wohl, und mit Recht, an Schnitzlers seine,
der
*
abgekönte und trotz ihres weiten Horizonts durchaus lokale
Freien Presse“
Kunst nicht recht heran. Nicht aus Unvermögen; Broadway
wagt heute alles, und es gelingt ihm eine ganze Menge.
ponentterngngwen rekuen iersngwerte
Aber offenbar aus psychologischer Einsicht. Man sollte ver¬
suchen, Schnitzler hier so zu spielen, wie man ein gewisses
auf Broadway.
Wiener Kinodrama mit dem Titel „Ringelspiel“ hier pro¬
un Tizia Bellich.
duziert hat: In der Vergangenheit, als Historie. Schnitzlers
der Saison haben nichts Ueber¬
Menschen sind heute Historie, seine Atmosphäre ein Destillat
ays Bretter geführt. In der Ferne
von pre-war Vienna (Vorkriegs=Wien). Diese Kultur ist
und der Publizitätslärm, der um
versunken und heute nur mehr Humus, aus dem neues
pesen und Morris Gest, sein Adjutant,
Leben sprießen wird. Seine „Komödie der Verführung“
ischen Atem geschöpft für irgendeine
zum Beispiel hier bloß aufzuführen, wie sie geht und
kolle Geschichte. Trotz Castiglione¬
steht, würde Durchfall bedeuten, weil man diese Menschen
ardt diesen Winter der anderen
hier nicht verstehen würde und daher für sie gar
leiben. Pawlowa und ihr russisches
kein Interesse aufbringen könnte. Broadway ist eine
ktournee ist nicht mehr aufregend. Die
Macht und man muß mit ihr rechnen; aber sie läßt
te in Anbetracht der internationalen
sich ködern. Hier ein wenig unterstreichen, dort ein
äfte — Sänger, Dirigenten und
wenig unterschlagen und den Menschen mit den Ge¬
die erste der Welt bezeichnet werden
sichtern und den Gefühlen ihrer Zeit und ihrer Epoche
hitierung von etwas neuem bis jetzt
und ihrer Stadt hinausstellen! Damit erweckt man das
Wir haben damit zu warten, wann
ewig=wache Interesse des Amerikaners für etwas anderes,
ifa erscheinen wird. Zu den vierund¬
für etwas noch nicht Gewußtes, für etwas neue Gebiete Er¬
hat man mit dem neuen Martin
schließendes, ohne damit aus dem Rahmen des Dramas zu
fallen. Man muß das Publikum — und das amerikanische
gereiht, das von einem Architekten
rde, der dem dort üblichen spanischen
Publikum vor allem — behandeln wie eine Schulklasse
Newyorker Atmosphäre beimischte,
voller Kinder, die dem Lernen gleichgültig=ablehnend, aber
d, das aussieht wie eine Kreuzung
dem Leben voller Neugierde gegenüberstehen; es handelt
und einer Markthalle. Da hinein
sich dann bloß darum, die Voltmenge der Neugierde in
iden werden — heiter, glücklich und
solche der Wißbegierde umzuwandeln und alle Spannung,
en Raum setzte man am Firnistag
die jener gegolten, auf diese umzuschalten. Es würde aller¬
padour“. Leider nicht mit der ver¬
dings ein Magier der Adaptierkunst nötig sein, um die
Gestalt einer Aurelie für Amerika gebrauchsfähig zu machen.
rn mit einem der üblichen bild¬
Eine Schauspielerin würde eher dafür gefunden werden
American Girls, die ihre Rolle
können als ein Schauspieler, der eine solche echte Wiener
rette selbst wurde fast erstickt in der
Zierpflanze wie Max v. Reisenberg stilgerecht darstellen
ren kunstgerechte Herrlichkeit einem
könnte. Vor allem müßte man aber den Titel ändern.
Hand in Hand mit der Virtuosität
Allabendlich demonstrieren in den Revuen Newyorks
unerreicht auf dem europäischen
hervorragend schön gebaute Mädchen mehr oder weniger,
Fall und der berühmten Dams
meistens mehr, entblößte Gliedmaßen; in den Ziegfeld
übrig blieb, war eine prachtvolle
Follies gibt es eine junge und tatsächlich entzückend schöne
keinlagen.
Dame, die langsam, sehr langsam, eine breit geschwungene
igt ein Spaziergang durch die
Treppe herabsteigt, mit nichts bekleidet als mit ihrem hell¬
an heuer im Sommer fleißig in
blonden, geschmackvollerweise nicht dauergewellten Genoveva¬
gauft hat, und die geschickten Zu¬
Haar — also Verführung genug. Aber es klipp und
e Beutel. Sogar „Alt=Heidelberg“
klar in Broadways magisch=hellem Kohlenlicht in die
Seidenpapier, herübergebracht und
Welt hinauszuposaunen, daß es so etwas wie Verführung
ird es Anfang Dezember aus den
gibt, das geht denn doch nicht.
Adaptiererin — wenn mein Ge¬
Claire Kummer auf die
Auch Hermann Bahr soll demnächst seine Stimme er¬
ssen werden. Waren die Ungarn
heben. Rudolf Schildkraut wird in einem seiner Stücke, das
vertreten, so ist ihre Zahl heuer
man hier als „The mongrel“ ankündigt, erscheinen. Die Fran¬
Ulmstand, der verschiedene Gründe
zosen begnügen sich nicht damit, gallischen Witz und die ewig
Stücke auf Broadway laufen hat,
schillernden Facetten ihrer dreieckigen Probleme zur Würze
nschaft, wie man sein Publikum
heimischen Fabrikates zu liefern — „comedy adaptod krom
macht, im kleinen Finger zu
the French“
— sondern sie kommen in persona über den
sich mit einem amerikanischen
Ozean, um hier ihre gewichtigere und traditionelle Kunst
harrick — drüben eine Reputation
unfiltriert zu zeigen. Nach Gemier mit dem Ensemble des
ein gewiegter Fregoli — hier
Théätre Nationale de l'Odéon und Mme. Simon ist Maurice
wirklichen ungarischen Namen
de Féraudy auf dem Programm. Die Woge, die den Italiener
m der ungarischen Konjunktur zu
Pirandello die letzten zwei Jahre emporgetragen hat, scheint
der lurch seinen ungleich bedeuten¬
zurzeit verebbi. Er schweigt heuer auf Broadway.
hr, und zwar durch dessen „Liliom“
Nun, last, not least, die Engländer. Sir James Barries
Die für die Wiener schon etwas ab¬
liebliche Phantasie „Peter Pan“ feiert Triumphe. Eine von
Molnarschen Gardeoffiziers blühen
jenen professionellen Theatergesellschaften, wie sie in den
Herrn Kramer wird es freuen, zu
letzten Jahren sich mehrfach gebildet haben mit dem ein¬
ed Lunt einen ganz ausgezeichneten
gestandenen und streng verfolgten Zweck, die gute ameri¬
In Boston wird eben desselben
kanische und internationale dramatische Literatur zu pflegen,
probt, und es wird interessant sein,
führt eben William Congreves (1670 bis 1729) „Way of the
rhervorragend guten des Wiener
World“ auf. Dem brillanten und galanten Komödiendichter
stung Elsie Fergusons, einer feinen,
hatten viktorianische und puritanische Strömungen wenig
Schauspielerin, mit der elementar¬
Gelegenheit gegeben, der modernen Welt seine artige Ver¬
zu vergleichen. Die Deutschen
beugung in parfümierter Loch nperücke, Schnallenschuhen,
nach Tollers „Masse Mensch“ das
farbig=glühendem Sami und Seiden, rieselnden Jabots usw.
chwunden war, kam Rudolf Lothar
zu mach.n. Nun drückt man eben ein Auge zu — und macht
rgewagtesten Frivolität, die man
das zweite desto weiter auf. Denn die Cheiry Lane Players
bekommen hat. Die Amerikaner
Ohren kaum, daß man ihnen so haben mit Hilfe eines ausgezeichneten Londoner Kostüm¬
17. Januar 1925
Nr. 21676
dieses lebenskräftigste Stück Sir Arthur Wing Pincros;
„The Second Mrs. Thankeray.“ Es ist nun 30 Jahre her,
daß es in London zum erstenmal aufgeführt worden, und seit
jenen Tagen hat sich gerade in der Frage, die so leidenschaftlich
darin aufgeworfen und verneint wird, das Bild geändert, der
Frage nämlich, ob eine Frau über ihre Vergangenheit hinweg
kann. Ein Stück, heute um dieselbe Frage geschrieben, müßte
vielleicht auch dieselbe Antwort geben, abei sie würde doch
anders gefaßt sein. Daß das Stück heute noch so fest steht,
spricht für Pincro; daß es aber neulich einen solchen Erfolg
hier errang, ist Ethel Barrymores Paula Thankeray zu
verdanken. Ethel Barrymore trägt einen berühmten Namen,
aber der Ruhm ist nicht nur der ihrer Familie, sondern auch
ihr eigener. Sie ist mit ihrer hohen, kräftig=chlanken Figur,
den rein geschnittenen Linien ihres schönen Gesichtes, der
immer am Sprung sitzenden Vitalität des Wesens, der doch
eine vollendete Damenhaftigkeit zur Seite steht, dem über die
Dinge hintrilleinden Humor und der Natürlichkeit ihrer
Gefühle die Repräsentantin besten amerikanischen Frauen¬
tums und in ihrer Künstlerschaft diejenige bester ameri¬
kanischer Darstellungskunst. Ih war für die Gelegenheit
dankbar, Ethel Barrymore, von der ich schon so viel gehört
hatte, in einer Rolle zu sehen, die ihren Talenten und ihrer
herrlichen Stimme Spielraum gab, aber ich setzte aus, daß
sie dem guten Thankeray gegenüber doch wohl ein wenig
zu scharf, zu dominierend zu geeizt sei; man eilte jedoch
amerikanischerseits meine Meinung nicht. Offenbar dürfen
eben die Frauen in unserem Land dies alles ungestraft sein.
Und der Erfolg gibt ihnen recht.
Abendbummel in Amsterdam.
Von Franz Friedrich Oberhauser.
„Avendblad, Avendblad!“ — „Schokolade!“ — „Zi¬
garetten!“ gellt es dem Ankommenden in die Ohren, und im
#tternden, verwischten rötlichen Licht der Bogenlampen wird
er von den Straßenjungen überfallen. Der Nebel hängt schwer
über der Stadt, in dichtem grauen Tüll hängt er um die
Häuser, um die entlaubten Bäume, und die elektrischen
Lampen sind wie südliche, große, leise glühende Lichtfrüchte,
wie flüssige, silberne Tulpen, die ungezählt zwischen den
schweren dunklen Falten der Nacht hängen. Breite, glänzende,
nasse Straßen, Häuser steigen ins Endlose des Nebels, eine
Flut von Licht schlägt in die graue Nachttiefe.
Plötzlich springt eine breite, von vierarmigen Straßen¬
lustern eingekränzte Brücke über die erste Wasserbreite.
Da sind schon die Grachten. Die Grachten Amsterdams,
die Poesie, seltene Schönheit, wie sie jede größere Stadt auf¬
zuweisen vermag. Diese breiten und engen Grachten aus der
ältesten Zeit der Stadt, mit ihrem G.wirr, ihrem Geflecht
von Masten und Segeln und Schiffen und kleinen Booten.
Matte Lichttafeln schwimmen auf der schwarzen Wasserfläche,
manchmal werden sie durch ein eiliges Boot zerschnitten, unter
dem breiten Brückenbogen rauscht es auf, Pfiffe fliegen über
das Wasser brechen sich an den Ufern, fallen aus dem Gewirr
der Schiffe, hängen in der Nebelwelle der Luft oder sind wie
ein dumpfer, tiefer Ton im Baß.
Die Trams tragen ihre handvoll Lichter in die Nacht
davon, in die Straßen hinei, drüben hinter ungezählten
Brücken blühen farbige Blumen auf, wiegen sich auf den
Masten, auf den Spriets, Dückdalben ragen dumpf und hart
zusammengebunden aus dem Wasser.
Glockengeläute fällt in die Nacht herein, von fernen
Türmen, von Kirchen, Stadthäusern. Da hebt sich etwas der
Nebel, ein Wind aus der Zuidersee her fährt hinein, es pfeift
in engen Gassen, winddurchlaufen kommen sie von den Vinnen¬
häfen her, windüberstürzte Plätze öffnen sich, in den zer¬
flatternden Nebeln hebt sich Rembrandt.
Matrosen, Schiffsknechte gehen untergefaßt am Arm
eines dicken drallen Mädchens den Schenken zu. Kinder in
lärmenden Holzklompen tanzen einen klappernden Reigen
zu dem Nationalgesang, Dunkelheit einer Gasse, eines
winzigen Straaties übernimmt den Wanderer, man gleitet
auf Kochabfällen, faulem Obst aus, man entfernt ein großes
schönes Stück Brot an den Rand der kleinen Gasse.
Herrgott, gibt es nicht irgendwo Hunger, eienden Hunger auf
dieser unsinnigen Welt? Ein Junge sieht es, der auf den
Steinstufen eines Hauses sitzt, lächelt und schreit „Och, meneer,
het is de bwestier
.“ aber der Wind reißt die Verbindung