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BERLIN N 4
Husschnitt aus:
Berliner Börsenzeitung
2 8 Okt. 1900
Schnitzlers „Komödie der Verführung“.
Reichsdeutsche Uraufführung im Wiesbadener
Staatstheater.
Wiesbaden, 26. Oktober.
Als unerbittlicher Richter einer dekadenten, bis ins
innerste Mark zerfressenen Zivilisation, erhob sich einst
Sudermann in „Sodoms Ende“, mit brutalster Unerbitt¬
lichkeit stieß uns dann Wedekind hinein in stinkende
Sümpfe perverser Erotik, beide, um durch grelle Bilder¬
bogenkunst im ethischen Sinne zu wicken. Noch schreiendere
Farben bringt Schnitzler in seinem neuen Gesellschafts¬
drama auf. Will auch er der Bußprediger sein, ein
finsterer Jochnnan, der die sündigen Gemüter weckt zur
Einkehr um Sizne, oder auch nur ein Juvenal in grimmig
lächelnder Satice? Seltsam wäre das freilich bei dem
Dichter des Reigen, der nackteste Sinnlichkeit mit allen
künstlerischen Reizen bekleidete, dessen Werke ihn selbst oft
so deutlich als Bürger jener müden, zum Absterben ver¬
urteilten Kulturwelt offenbarten. Und doch scheint alles
zu Beginn auf solche Auffassung hinzuweisen. Keine
Frauengestalt, die nicht dem sinnlichen Triebe rettungslos
verfallen wäre, die nicht ohne Besinnen, mit vollem Be¬
wußtsein dem ersten und nicht einmal besten Vertreter des
eidig Männlichen sich auslieferte, auch wenn es ein blasierter
unreifer Junge sein sollte wie jener Juwelierssohn Max
von Reifenberg, der alle nacheinander und nebeneinander
besitzt, die vornehme Weltdame, die lüstern begehrliche Evas¬
tochter, die so gern eine große Kokotte werden möchte, aber
auch das süße Mädel, die blonde Geigenkünstlerin, die end¬
lich doch — eine Wendung von tiefer Unwahrhaftigkeit —
durch die Mitteilung, daß sie Mutter werden soll, diesen
frivolen Eroberer als treuen Gatten für sich festhält. Fast
überall eine Liebe ohne Geistigkeit, mit offenem Zynismus,
ja Priapeischer Brunst sich äußernd. Und das alles spielt
sich ab in den unheilsschwangeren Tagen des Jahres 1914
bis zur Kriegserklärung — wie deutlich scheint hier die
Zeitsatire hervorzutreten: so war jenes Geschlecht; schaffen
wir ein neues gesunderes in ethischer Wahrhaftigkeit! Aber
das alles ist doch gar so ganz anders gemeint! Aus drei
Freiern hat sich Gräfin Aurelia von Markenstein in hin¬
gebender Liebe den edelsten gewählt, Ulrich von Falkonir.
Auch er liebt sie und gibt sie doch auf; ihm ist es, so sagt
er, gegeben, die ewigen Ströme rauschen zu hören, die
dunklen, ewigen Ströme, die unaufhörlich fließen von
Mann zu Weib und von Weib zu Mann, zwischen Ge¬
schlecht und Geschlecht; er ahnt in ihr die Vielfältige, Un¬
erschöpfliche. Herrliche, die geschaffen ist, sich zu ver¬
schwenden und in aller Verschwendung sich im Innern
stets zu bewahren. Ein seltsamer Liebhaber, dessen edle,
müde Resignation nun die Geliebte, die er durch seine sitt¬
liche Kraft retten könnte, bewahren vor den geheimen
Lockungen ihres Trieblebens, mit schöner Geste und hohen
Worten hinausstößt in diese von schwülen Genüssen erfüllte
Welt! Das heißt ihm, sie auf den Weg zu führen, den ihr
wahres Wesen ihr weist. Es ist der Weg der Gemeinheit,
des Hinabgleitens zu ekelhaften Tiefen des Schmutzes. Und
als er sie wiederfindet, gebrochen an Leib und Seele, da
kann er nur noch mit ihr gemeinsam in den Tod gehen
Jene letzten Szenen des Wiederbegegnens könnten wirken
als Zeugnis fortreißender dichterischer Stimmungskraft,
wäre es uns möglich, ein Wesen wie diese Aurelia noch
menschlich zu fassen oder den melancholischen Freiherrn
anders zu verstehen als Ritter von der traurigen Gestalt.
So schwankt der Dichter hin und her; er gab uns
Bilder, die nur als satirische Verzerrung genommen wer¬
den können und will uns dann doch dazu bringen, hier in
philosophischem Tiefsinn die große Tragödie des Menschen¬
tums zu ahnen. Es ist nun einmal nicht anders; es ist
nicht möglich, mit asthetischer Lebensauffassung allein
ethische Probleme zu gestalten: so weit jenes Sudermann¬
Drama in brutalen Effekten und eindeutiger Theatralik
hinter Schnitzlers Arbeit zurücksteht, so sehr ist es ihm
wieder überlegen durch die Sicherheit des ethischen Stand¬
punkts. Dort stehen wir nicht hoch aber fest, hier läßt uns
der Dichter, der alles in verzeihender Menschlichkeit be¬
greifen will, hilflos in unseren Gefühlen umhertaumeln.
Dazu fehlt dem Werke jede formale Geschlossenheit, die
Handlung bleibt in endlosen Gesprächen stecken, um dann
wieder rapid zu hasten; durch solchen Mangel an Oekono¬
mie gewinnt dann freilich eine besonders reizvolle, an
den jungen Schnitzler der „Liebelei“ erinnernde Episode,
die Verführungsszene der jungen, in holder Sinnlichkeit
und doch Reinheit schwebenden Seraphine.
Die Aufführung im Wiesbadener Staatstheater wurde
dem Werke in maßvoller, das Häßliche möglichst abtönender
Auffassung durchaus gerecht. Besonders Thila Hummel
als Aurelie ließ durch edle Kunst manches an sich Unbe¬
greifliche glaubhaft erscheinen. Mit dem Respekte, der
einem Künstler wie Schnitzler gebührt, nahmen die Hörer
das neue Drama auf, freilich ohne innerlich warm zu
werden. Der unerbittliche Ernst unserer Zeit läßt uns
solches Milien, in der das Geschlechtsleben alles bedeutet,
doch nicht mehr fühlend miterleben.
K. Pagenstecher.
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Telefon: Norden 3051
BERLIN N4
Ausschnift aus:
Ostsee-Zeitung, Stettin
2 9. Okt. 1924
Schnitzlers „Komödie der Verführung“ in Wiesbaden.
Arthur Schnitzlers „Komödie der Verführung“ die vor etwa
vierzehn Tagen im Wiener Burgtheater zum erstenmal auf die
Bühne kam, hatte sich Hagemann für das Wiesbadener
Staatstheater zur reichsdeutschen Uraufführung
gesichert. Man hat in diesen Tragödien verführter und verführe¬
rischer Frauen, die Schnitzler mit der wehmütig lächelnden Erfah¬
rung, „daß das Leben immer köstlicher wird, je weniger davon
übrig bleibt“ in eine Komödie kleidet, merklich das Werk eines
Sechzigjährigen vor sich. Das Schönste darin ist der Dialog mit
allen Feinheiten, aller Novlesse und Höhenluft des kultivierten Dich¬
ters der „Liebelei“ dem der barbarische Erfolg des „Reigens“ eine
verhängnisvolle Berühmtheit auch in kunstfremden Kreisen gegeben
hat. Aber es fehlt darin die Fülle des aus mitleidenden Leiden¬
schaften aufquellenden Lebens, keine lebendigenMenschen kommen
in Beziehung zueinander, sondern für Figuren, die Thesen ihres
Erschaffers verkörpern, obgleich sie ihre bühnenechten Methoden
haben. Diese liebenswürdige Karikatur des k. und k. Wienertums
bei Ausbruch des Weltkrieges wurde in Wiesbaden vielleicht noch un¬
wienerischer gegeben, als sie am Wiener Burgtheater gewirkt haben
mag. Die Inszenierung von Dr. Hans Buxbaum — obwohl
sie noch manches hätte vertiefen und verdeutlichen können, wo der
Dichter die Regie sich selber überließ — suchte aber im übrigen mit
anerkennenswertem Geschick das dichterische Aroma zu erfassen und
das Werk mit aller jener prickelnden Resignation und jenem mon¬
däuen Sarkasmus zu beseelen, die es erfordert und es zu einer nach¬
schöpferischen Regieleistung machen konnte. Ihr diente eine ganze
Reihe trefflicher schauspielerischer Talente. Namentlich die Frauen¬
rollen, um die sich überhaupt das Stück bewegt, waren ausgezeichnet
besetzt: Thila Hummel vergeistigte heldisch die Gräfin Aureli¬
Gudrun Kabisch, die neue Wiesbadener Sentimentale, war als
Judith wahrhaft ein Erlebnis in jener dramatischsten Szene des
Stückes, in der die beiden Schwestern Judith und Julia, von Hilde
Wernburg glaubhaft dargestellt, um den Tod des ihnen beiden
angehörenden Mannes sich zerquälen; Friedel Nowack als
Seraphine war das reizende natürliche Geschöpf, wie es der Dichter
haben wollte. Max von Reisenberg wurde nicht ganz glücklich von
dem jugendlichen, noch etwas unfertigen Wolfgang Langhoff
gespielt.
O. D.