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28. Die Se.stern oder Casanova in Spa
Bul apder Neus 748. We
Seite 4
DERNI
Wien, Donnerstag
Das Amüsantene vielleicht, was Casa¬
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nova in der Schweiz erlebte, war sein Be¬
such be. Voltaire, im Schloß Les Délices,

6%
nahe von Genf, wo der berühmte Philosoph
und Dichtersidierte. Der kecke Venetianer
war dorthin gekommen in der ausgesproche¬
60
nen Absicht, dem großen Mann „höflich die
vielen Fehler zu zeigen, die er in seinen
S
6.
Büchern gemacht hatte". So verlief das
Zusammensein der beiden denn auch zwar
höchst anregend, aber nicht ohne Wider¬
Auf Casanovas Spuren.
sprüche und am Ende mit einer Verstim¬
mung, wie wir es aus den Erinnerungen
Pierre Grellet: Les Aventures de Casa¬
kennen. Voltaire erwähnt den Besuch in
nove en Suisse.
keinem seiner zahlreichen Briefe, und man
Morgen ist im Burgtheater die erste Auf¬
wäre versucht, Casanovas eingehende Schil¬
führung von Anur chi#lers Schauspiel
derung für eine kühne Renommage zu halten
„Die Schwestern“, das eine Epifode aus
Darum ist es von höchstem Interesse, wie
dem Leben des berühmten Venetianers zum
Grellet nachweist, daß Voltaire in einigen
Vorwurf hat. Schnitzlers meisterhafte No¬
von den Fragen, die er mit seinem Wider¬
velle „Casanovas Hfimkehr“ schildert den al¬
sacher diskutierte, seine Ansichten nach dem
ternden Europareisinden, wie er erschöpft,
Besuch geändert hat, und daß dies nur durch
noch nicht ermüdet von den Freuden und
den Einfluß der Gespräche mit Casanova
Leiden der Welt noch einmal einen jungen
erklärlich ist.
Nebenbuhler, aber nicht den eigenen Ver¬
Grellet stellt auch die Identität einiger
fall überwindet. Hoffmannsihals „Chri¬
Geliebten des Meisters der Galanterie fest.
stine" und „Der Abenteurer und die Sän¬
So lernen wir die Herkunft und den Lebens¬
gerin“ nehmen ihre Fabel aus Casanovas
lauf der großen Kokotte Charpillon vor und
Erinnerungen. Dieses Buch des buntesten
nach ihrer Beziehung zu dem Verfasser der
Erinnerungen kennen, da sie, wie man aus
Geschehens und der tiefen Tragik ist uner¬
einem Polize.bericht erfährt, die uneheliche
schöpflich für die Dichter. Keiner kann es
Tochter der unehelichen Tochter der Tochter
lesen, ohne den Anreiz zu empfinden, aus
dieser oder jener Periode des Weltlaufs
des Pfarrers von Ableutschen im Kanton
Bern und also eine Schweizerin war. Die
dieses höchst menschlichen Menschen ein Werk
Maske vom Gesicht der Madame de M. aus
zu formen, das fremdes Erleben mit eigenem
Solothurn wird gelüftet und die der schönen
Genuß, eigener Enttäuschung verschmilzt.
Patviz erstochter Sara aus Bern. Leider
Aber Casanovas Memoiren selbst
verhindert die Dezenz den gelehrten Casa¬
sind eine Dichtung von stärkerer Wirkung,
nova=Forscher, uns Näheres von der klugen
als alle Dramen und Novellen, die Teile
und kühnen Theologin Hedwig und ihrer
seines Lebens in neue Formen gegossen
naiven Cousine Helene in Genf zu ver¬
haben. Seitdem erst in französischer und
raten, die gemeinschaftlich von Casanova in
italienischer, dann in deutscher Sprache diese
die Freuden der Liebe eingeweiht wurden.
Selbstbiographie des Abenteurers und Li¬
Aber daß auch diese Figuren historisch sind,
teraten der Nachwelt zugänglich geworden
beweist Grellet, indem er den Namen des
ist, ist sein Ruhm immer mehr gewachsen.
späteren Gatten der so bereitwillig ver¬
Niemand beginnt die Lektüre, der sie nicht
führten Hedwig nennt.
bewegt, gerührt, vielleicht auch abgestoßen,
Dieses wissenschaftliche und liebens¬
aber immer gespannt fortsetzte bis zum Ende
würdige Buch ist nicht nur brennend inter¬
der neun starken Bände und dann nur des¬
essant für alle, die Casanova lieben und
halb enttäuscht wäre, weil die Kraft ihres
bewundern: es ist auch eine erlesene Freude
Verfassers nicht ausreichte, seinen Levens¬
für den Bibliophilen. In den Lausannner
gang bis zum bitteren Ende des Exils im
Editions Spes erschienen, ist es auf schön¬
Waldsteinschen Schlosse in Dux zu erzählen.
stem, holzfreiem Papier gedruckt und ge¬
Eine Dichtung der Wirkung nach sind
schmückt mit reizenden Gravüren nach Bil¬
die Memoiren, sagte ich. Sind sie nur Dich¬
dern und Stichen des achtzehnten Jahr¬
lung? Sind sie Dichtung und Wahrheit
hunderts, die Städte, Gegenden und Per¬
vermischt? Hier ist die Aufgabe der Casa¬
sonen aus Casanovas Schweizer Berichten
nova=Philologie gestellt. Was bedeuten die
R. 0.
wiedergeben.
Erinnerungen als historisches Dokument?
Wie weit darf man ihnen vertrauen? Sie
bieten das lebendigste Bild des privaten Le¬
beus des achtzehnten Jahrhunderts. Aber
298
G IE
##t#es ein richtiges Bild? Und nahm Casa¬
3—
noya wirklich die Stellung in diesem Leben
ein, die er sich selbst zuweist? Oder ist die
24.2)
Erwähnung der eigenen Person in den

Kreis der wechselnden Umgebung verfälscht
durch das Versagen des Gedächtnisses,
E
durch die Eitelkeit des alänzenden Betrü¬