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28. Die Schuesternoder Casanova in Sna
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Theater und Kunst.
Jenseits von uns.
Weltfremdheit war immer das Vorrecht des Dichters;
Weltabgewandtheit sein gutes Recht; wofern er nur Leben
gab und Menschen gestaltete — da schlug unser Herz mit, weil
wir Menschen von heute letzten Endes sind, was die Menschen
vor tausend Jahren waren, erfüllt von der gleichen Sehnsucht,
vom gleichen Schmerz und der gleichen Lust. Der Zeit zum
Trotz, die ein Dichter dem Kunstwerk wählt, bleibt dieses zeit¬
los, also ewig zeitgemäß, weil ewig wahr. Jetzt erleiden wir
es, daß Dichter, die einst an unsere Seelen rührten, den Weg
zu uns nicht mehr finden. Je lauter die Brandung des Lebens
an ihren Verstand schlägt desto matter wird das Echo in
ihrem Herzen; sie flüchten vor dem gewaltigen Rhythmus der
Wirklichkeit, halb ohnmächtig, halb eigensinnig, in das Reich
blutleerer Schatten. Aus dem Sakko ins Kostüm, aus dem
durchwühlten Schopf in die gepuderte Perücke. Sie sind jenseits
von uns.
Jenseits von uns schaffen heute so viele, die früher die
Literatur beherrschten. Zu ihnen gehörte Arthur Schnitzler;
frisierte er zwar seit je die Gestalten seiner Phastraste aulf
Ideale zu — die Kinder, sie hörten es gerne. Aus den Kindern
sind aber Menschen geworden, denen das Leben mit ganz
anderem Griffel „Konflikte“ in die Seele zeichnete. Wir reden
keineswegs einer „Tendenz“ das Wort, aber in ein Reich, das
so wenig mehr unser ist, kann die Entführung dem Dichter
nicht glücken.
Das Versspiel von Casanova, das gestern im Burg¬
thegter zur Uraufführung gelangte, deutet nichts Geringeres
als den Zusammenbruch jener bürgerlichen Bühnenliteratur
an, die überspitzte Problemchen mit zierlichen Wortgirlanden
erledigt und den Rätseln des Lebens mit tändelnden Mario¬
netten beikommen will. In verschwiegener heimlicher Stunde
genoß Casanova die Umarmung einer Frau, die er für eine
andere hielt, indes jene, die ihn ersehnte, leer ausging. Um
das Geheimnis dieser Liebesstunde, darum, wer wen betrog
und mer von wem betrogen ward, gehl der philosophisch=an¬
mutige Zank der Männer und Frauen zweieinhalb Stunden,
bis schließlich der heißbedrängte Casanova gescheit entscheidet,
daß er eigentlich keine von beiden besaß. Wir glauben, daß
Casanova — der wahre — von dem Schnitzler=Treßlerschen
Scheinlebemann ebenso weit entfernt war wie die Geistigkeit
dieser ungewollten Komödie der Worte von dem Ruf des
Lebens — damals wie heute.
Der Abstand kennzeichnet zugleich die Linie dieser wiene¬
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rischen Begabung, die einstmals um tragische Schicksale erfolg¬
e
reich bemüht war, mochten deren Träger auch nur in einem
eit
Villenviertel zu Hause gewesen sein. Was davon blieb, reicht
gerade für treugebliebene Freunde aus: seine. kluge Verse, ha
ZIMN 1920
Der Abend

geistreiche und heiter=gewagte Scherze und die unerschöpfliche
Liebenswürdigkeit des Salongespräches wohlerzogener Leute
Mag dies im Kurs auch gefallen sein — eine Meisterschaft ist
es doch und soll dem Dichter des „Leutnant Gustl“ und des
„Anatol“ unbenommen bleiben.
Eine bezaubernde Augenweide war Frau Aknau, über
raschend gut in der Rede, noch trefflicher in Gesichts
spiel und Haltung; mit der übersprudelnden Frau Albach
Retty schuf sie Leben aus Lehm; die Herren, obgleich alle
ihr Bestes bietend, mühten sich um solche Wandlung vergeblich
Nach Schluß der pausenlos gespielten Komödie riß rücksichts¬
los=lauter Beifall den in seine süßen Träume eingesponnener
Dichter grausam ins Diesseits vor die Rampe.
Dr. M. M.
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