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26.1. Kongedie der orteyklus
Schuld: die Menschen sind anders als ihre Erlebnisse, anders als die Worte,
die sie sprechen und hinter die sie sich verstecken und die wieder mit dem
wahren Erlebnis nichts gemein haben. Seltsam die wachsende Wehmut über
die Unmöglichkeit, einander wirklich nahe zu kommen. Und vor allem selt¬
sam in diesen drei Stücken: wie zwar nicht das Erotische an sich, das eine
der treibenden Mächte des Lebens ist, wohl aber das Physische daran, die
„erotische Tatsache“ sozusagen, ins Unwichtige hinabgedrückt wird
In allen drei Komödien schlägt ein gleiches Grundmotiv an: das der Frau, de¬
ren seelische Beziehung und deren Zusammengehörigkeit mit dem Gatten stär¬
ker ist als alles andere und sogar stärker, entscheidender und schicksalsbestim¬
mender als die Treulosigkeit, zu der sich dieselbe Frau trotz des Bewußtseins
ihres Verwurzeltseins im Heim und Leben ihres Mannes hinreißen lassen konnte.
Ein Ehebruch in der Vergangenheit wird gezeigt, einer in voller Gegenwart und
einer, der in der Zukunft liegt und vielleicht gar nicht zur Erfüllung kommt,
auch wenn er für Frau Sophie Herbot die Loslösung aus Wirrnis und Lüge,
die Beschwichtigung und das ruhige Glück bedeuten könnte, das ihr immer ge¬
fehlt hat; aber weder sie, noch Klara Eckold, die das Losgerissenwerden vom
Leben ihres Gatten in den Tod treibt, noch Agnes Staufner, die nur aus
einem unerträglichen Gefühl der Einsamkeit, in die ihr Mann sie gleiten ließ,
zu einem anderen geflüchtet ist, in dessen Gegenwart nur die Stimme Felix
Staufners zu ertönen braucht, um sie das weit unbegrenztere, endlose Allein¬
sein empfinden zu machen, zu dem sie an die Seite jenes andern verurteilt wäre
diese Frauen alle werden viel weniger durch ihre erotische Sehnsucht zu

ihrem entscheidenden Tun aufgerufen, als durch das innere Gebot, mit dem
Mann zu leben, der ihrer bedarf, durch die Empfindung, mit ihrem ganzen Sein
viel stärker dort versponnen zu sein, wo Gemeinsamkeiten aller Art unlösbare
Beziehungen geschaffen haben und wo es seinen eigentlichen Sinn in der hel¬
fenden Hingabe an das Dasein ihre Mannes findet, als wo das launische Ver¬
langen ihres Leibes oder selbst ihrer unverbrauchten Seele aufbrennt. (Sogar
der Ehebruch Klara Eckolds, die sich nicht dem schenkt, den sie liebt, son¬
dern dem, der sie braucht und dem sie etwas sein kann, trägt diesen Candida¬
Zug.) Mit Schwermut und Resignation wird in all diesen Szenen die Unsicher¬
heit aller menschlichen Beziehungen gezeigt: wie Menschen einander abhanden
kommen, die sich viel waren und es einander wieder werden können; wie auch
Gefühle ihren Krankheiten unterworfen sein können; wie keines vor einer
Stunde sicher ist, die plötzlich das Gleichgewicht seiner ganzen Existenz ver¬
schiebt, sein ganzes Leben aus den Angeln hebt und seinen Sinn zu Unsinn
und Wertlosigkeit verzerrt. Und all dies wird noch verschoben und verfälscht
durch die Worte, die die Menschen zu einander sprechen und die jede Wahr¬
heit schon in der Sekunde umfärben, in der sie ausgesprochen wird; am
schlimmsten in den Augenblicken der Entscheidung, über denen Schicksale
schweben: da bringt das Wort nicht nahe, bringt nur neue Maskerade, Umwöl¬
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