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25. Bernhandi

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Schnitzler und Brahm
s ist der Vorzug und der Fehler von Arthur Schnitzlers
E neuer Komödie, daß Professor Bernhardi kein „Held
bleibt, trotzdem er Gelegenheit hatte, einer zu werden.
Er verweigert — Jude in einem erzkatholischen Lande! — dem
Priester den Zutritt zu einer Sterbenden, damit sie von ihrem
Schicksal nichts erfahre. Unheil, du bist im Zuge; und es war
kein kleines Kunststück des Technikers Schnitzler, wie er dies Un¬
heil sich hatte bereiten lassen. Gleich der erste Akt weckt das Ge¬
fühl der Sicherheit, daß der Dichter die Welt, aus der er ein Stück
herausschnitzen, sein Stück herausschnitzlern will — nämlich die
Welt von Aerzten, von allerlei Aerzten, und von Oesterreich, dem
Oesterreich der hundert Sprachen und nicht ganz so vielen Kon¬
fessionen — bis in ihre verräterischen Winzigkeiten kennt. Es
ist leicht, mit ein paar Fachausdrücken wie Sepsis, Tabes und
Tumor die Atmosphäre eines Krankenhauses mitzuteilen. We¬
niger leicht ist es, von vierzehn Aerzten in jedem Akt diejenigen
einzuführen, ohne deren Besonderheiten keine Reibung, also kein
dramatischer Dialog entstünde, und diejenigen zurückzuhalten,
die für die Steigerungen des nächsten Aktes gebraucht werden.
Schnitzler geht dabei mit einer Planmäßigkeit vor, die zu ver¬
folgen ein Vergnügen ist. Erst allmählich lernt man dieses
Aerztekollegium in all seiner Buntheit kennen: die Kleingeister
und die Enthusiasten, die Dunkelmänner und die Dünkelmänner,
die echten und die falschen Biederleute, die Zionisten und die
Ueberläufer, die Antisemiten und die Misanthropen, die Cho¬
leriker und die Phlegmatiker. Selbst diese hat der Fall Bern¬
hardi aufgestört. Wie jeder einzelne sich zu dem Falle stellt, ent¬
hüllt ihn: macht ihn verächtlich oder unerheblich oder liebens¬
wert. Der will Bernhardi halten, jener will ihn stürzen. Die
Gegensätze platzen auf einander. Es gibt in jedem Akt parlamen¬
tarische und unparlamentarische Redeschlachten, die das Interesse
nicht sinken lassen, aber niemals ein Drama zustande brächten,
wenn nicht auch Vernhardi von dem Gelärm in einen Konflikt
getrieben würde — in den Konflikt, der unvermeidlich ist: daß er
an der Berechtigung seiner Handlungsweise irre wird. Dieser
Konflikt erfährt im Laufe der fünf Akte mannigfache Wandlungen
und Verschiebungen, Retardierungen und Aufschwellungen, ohne
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